{chef} als Präfixoid?

Hallo! (:

Wie lässt es sich linguistisch begründen, dass ich Chefredakteur*in nicht als echtes Kompositum wahrnehme, Chefetage aber schon? Könnte {chef} im ersten Wort als Präfixoid eingestuft werden? Ich habe auf die Schnelle keinen zuverlässigen Test für Präfixoide gefunden. 

Ein Unterschied ist, dass sich Chefredakteur*in nicht wirklich mit einem Genitiv paraphrasieren lässt (*Redakteur*in des Chefs), Chefetage hingegen schon (Etage des Chefs). Ist es eine allgemeine Eigenschaft von endozentrischen Komposita, deren Elemente beide substantivisch sind, dass sie sich auf diese Weise mit einem Genitiv paraphrasieren lassen, d.h. wäre das ein möglicher Test für Präfixoide in Substantiven? Ich habe bisher kein Gegenbeispiel finden können.

Genauso verhält sich {profi} in Profisportler*in und {baby} in Babyelefant. Die Kategorie „Affixoid“ scheint u. a. darüber definiert zu sein, dass Affixoide von der Bedeutung des zugehörigen Lexems abweichen (so wie {riesen} in Riesenerfolg oder {werk} in Blattwerk) – das trifft aus meiner Sicht aber bei Chefredakteur*in, Profisportler*in und Babyelefant kaum zu. Mir ist bewusst, dass die Berechtigung der Kategorie „Affixoid“ in Abgrenzung zum regulären Affix angezweifelt wird (zumindest aus synchroner Sicht), aber bei {chef}, {profi} und {baby} finde ich die Grenze zwischen Substantiv und Affixoid verschwommener als zwischen Affixoid und Affix.

Ich bin auf die Frage im Zusammenhang mit dem Gendern gestoßen: Chef*innenetage zum Beispiel ergibt aus meiner Sicht Sinn, Chef*innenredakteur*in hingegen nicht, was für mich darauf hinweist, dass es sich bei {chef} in Chefredakteur*in um ein erstarrtes Morphem handelt. (Bitte keine Diskussion über die allgemeine Sinnhaftigkeit des Genderns, darum geht es nicht.)

Liebe Grüße
Yaouoay

Hallo,
mit einem Genitiv muss man ein Kompositum auch nicht immer umschreiben können. Ein "Avocadotoast" ist auch kein "Toast der Avocado", das heißt, das erste Element kann auch ein Attribut, eine nähere Beschreibung oder eine Bedeutungseinschränkung des Zweitelements sein. Dass ein Unterschied zwischen deinen beiden Chef-Komposita ist, sehe ich auch so. Ich würde "Chefredakteur" aber als ein solches sehen, wo "Chef-" den Titel beschreibt, von etwas Chef zu sein, und nicht die Person des "Chefs" beschreibt.

Bei Chefarzt, Chefredakteur, Chefkoch wird die Rangstelle in einem System bezeichnet. 
Das ist eine gut isolierbare Bedeutung in den Komposita. Ich würde das auch nicht als Affigierung auffassen. Das ist doch ganz anders als {Öko-}, {Ex-}, und {Riesen-}.

(04.04.2024, 03:35:11)Yaouoay schrieb: Ich habe auf die Schnelle keinen zuverlässigen Test für Präfixoide gefunden. 

Ich habe es irgendwann mal so gelernt, dass – wie du selbst auch sagst – Affixoide Stammzusätze sind, die form- aber nicht bedeutungsgleich mit einem Stamm sind (z.B. saukalt). Bei deinen Beispielen bleibt die Bedeutung von "Chef-Ø" aber stets erhalten. Das sind alles ganz "normale" Komposita, wenn auch verschiedener (semantischer) (Sub)typen.

(04.04.2024, 03:35:11)Yaouoay schrieb: Ich bin auf die Frage im Zusammenhang mit dem Gendern gestoßen: Chef*innenetage zum Beispiel ergibt aus meiner Sicht Sinn, Chef*innenredakteur*in hingegen nicht, was für mich darauf hinweist, dass es sich bei {chef} in Chefredakteur*in um ein erstarrtes Morphem handelt. (Bitte keine Diskussion über die allgemeine Sinnhaftigkeit des Genderns, darum geht es nicht.)

Chefredakteur*in dürfte m.E.n. wohl eher ein Determinativkompositum analyisiert werden, hat aber einige interessante Ähnlichkeiten zu Dvandva/Koordinativ-Komposita. Zum Beispiel: Chefredakteur*in <-> ?Redakteur*innenchef*in <-> Chef*in-(und)-Redakteur*in Redakteur*in-(und)-Chef*in. Die Person ist Chef*in und Redakteur*in gleichzeitig. Insbesondere ist sie aber wohl Chef*in der Redakteur*innen, oder? Daher passt die Lesart als "klassisches" Dvandva nicht komplett nicht komplett. Jedenfalls würde ich sagen, dass * Chef*innenredakteur*in nicht passt, weil das nicht den gängigen Lesarten entspricht; Chef*inredakteur*in fänd' ich da naheliegender, wenn man denn beide Konstituenten gendern und Chefredakteur*in vermeiden möchte.

Danke für Eure Antworten! (:

Kevin schrieb:mit einem Genitiv muss man ein Kompositum auch nicht immer umschreiben können. Ein "Avocadotoast" ist auch kein "Toast der Avocado", das heißt, das erste Element kann auch ein Attribut, eine nähere Beschreibung oder eine Bedeutungseinschränkung des Zweitelements sein.

Ich finde schon, dass Avocadotoast mit Toast der Avocado paraphrasiert werden kann, zumindest ist die Bedeutung nicht komplett verkehrt so wie bei Redakteur*in des Chefs.

Kevin schrieb:Ich würde "Chefredakteur" aber als ein solches [Kompositum] sehen, wo "Chef-" den Titel beschreibt, von etwas Chef zu sein, und nicht die Person des "Chefs" beschreibt.

janwo schrieb:Bei Chefarzt, Chefredakteur, Chefkoch wird die Rangstelle in einem System bezeichnet.
Das ist eine gut isolierbare Bedeutung in den Komposita. Ich würde das auch nicht als Affigierung auffassen.

Danke für Eure Einschätzung! (:

thf schrieb:Chefredakteur*in dürfte m.E.n. wohl eher ein Determinativkompositum analyisiert werden, hat aber einige interessante Ähnlichkeiten zu Dvandva/Koordinativ-Komposita. […] Die Person ist Chef*in und Redakteur*in gleichzeitig.

Vielen Dank, als ich nach „Koordinativkomposita“ gesucht habe, habe ich diesen Text gefunden. Ich würde nach der Terminologie darin von einem appositiven Kopulativkompositum sprechen, das heißt, beide Elemente (Chef und Redakteur*in) sind hierarchisch nebengeordnet (kopulativ) und koreferent mit der gleichen Entität (appositiv). Gleiches trifft auch auf Profisportler*in und Babyelefant zu. Das scheint ein recht seltenes Phänomen zu sein (zumindest im Deutschen), was wohl der Grund dafür ist, dass ich bisher nicht darauf gestoßen bin.


Liebe Grüße
Yaouoay