Semantische Relation Mann/Frau

Moin!
ich hatte die Diskussion schon mal in einem früheren Tutorium und bin gerade wieder darauf gestoßen: Mann und Frau werden in Lehrbüchern häufig als Beispiel für Komplementarität dargestellt. Gerade mit dem Aufkommen von Genderforschung etc. könnte man ja auf die Idee kommen, dass das nicht die einzige Lösung ist (unabhängig davon, wie man zu dieser Forschung steht). Allerdings fällt mir auch keine wirklich bessere Klassifizierung ein. Antonymie beispielsweise wäre ja etwas wie dick - dünn, das scheint mir auch nicht allzu sinnvoll. Gibt es da alternative Ideen? Ebenso hab ich mich bei ledig - verheiratet schon häufiger gefragt, ob es wirklich komplementär ist, wie oft behauptet wird.

LG

Tja, bei vielen dieser Gegensatzpaare kann man tatsächlich nicht von einem reinen bipolaren, komplementären Gegensatz sprechen. Dass es mehr als nur "Mann" : "Frau" gibt, dürfte eigentlich heute unumstritten sein. Ähnlich bei den Personenständen: juristisch gesehen gibt es vielleicht nur "verheiratet" vs. "nicht verheiratet", letzteres wird aber in vielen Formularen unterschieden nach "ledig" (noch nie verh.), "verwitwet" (nicht mehr verh., unfreiwillig), "geschieden" (nicht mehr verh., freiwillig); außerdem gibt es noch den Grauzonenzustand "verlobt", der personenstandsrechtlich nicht so markant ist, aber zum Beispiel in der Strafprozessordnung [§52 Abs. 1 Satz 1 StPO] dem Verheiratetsein gleichgestellt ist. Allerdings sind die nicht komplett komplementär, jemand kann gleichzeitig verwitwet und verlobt sein, jedoch mit Bezug auf verschiedene Personen. Ja, je nach Rechtsgrundlage kann man auch gleichzeitig ledig und verheiratet sein, z.B. wenn eine Heirat im Ausland im Inland (noch) nicht anerkannt worden ist. 

Echte komplementäre Gegensätze kann ich mir nur wenige vorstellen: 

• Positiv : Negativ (als Substantive) 
  
• tot : lebendig 
  
• Paare nach dem Muster x : nicht x
  

Im Grunde muss man alle Gegensatzpaare als nicht echt komplementär ausschließen, wenn sich bei ihnen ein "sowohl ... als auch ..." und/oder ein "weder ... noch ..." denken lässt.

Vielleicht kann man sich Mannsein bzw. Frausein als 'Cluster' von mehreren Eigenschaften, von denen einige zentraler sind als andere, denken.     Und ich würde für beides auch jeweils Gradualität erwägen.

(22.01.2018, 19:34:00)kunnukun schrieb: Vielleicht kann man sich Mannsein bzw. Frausein als 'Cluster' von mehreren Eigenschaften, von denen einige zentraler sind als andere, denken.     Und ich würde für beides auch jeweils Gradualität erwägen.

Geht das in Richtung Prototypensemantik, oder schwebt dir etwas anderes vor?

Da die Eigenschaften auch gewichtet werden können - es gibt also wichtigere als andere - wäre auch eine optimalitätstheoretische Lösung denkbar. Obwohl es sich zugegebenermaßen etwas komisch anhört, von einer optimalen Frau und einem optimalen Mann zu sprechen.

Prototypen-OT. tsss...

Dann bräuchte ich für Komplementarität aber genau ein Constraint das entweder verletzt oder nicht verletzt wird. Habe ich mehr, wird die Sache wieder graduell, oder nicht?

(22.01.2018, 20:28:41)thf schrieb:

(22.01.2018, 19:34:00)kunnukun schrieb: Vielleicht kann man sich Mannsein bzw. Frausein als 'Cluster' von mehreren Eigenschaften, von denen einige zentraler sind als andere, denken.     Und ich würde für beides auch jeweils Gradualität erwägen.

Geht das in Richtung Prototypensemantik, oder schwebt dir etwas anderes vor?

Im Hinterkopf habe ich auch das.   Aber sowohl Prototypen als auch Familienähnlichkeit erscheinen mir plausibler für sehr viel deutlicher kulturelle Kategorien (wie <Spiel>).
Interessanter finde ich: Mannsein (bzw. Frausein) ist das, was es in dieser Welt tatsächlich ist; und  was das ist, müssen Experten erforschen.   -> semantischer Externalismus.   Gradualität würde ich dabei immer mit berücksichtigen und auch, dass verschiedene Eigenschaften zum Mannsein beitragen dürften. Gewichtung ist damit gut vereinbar.    Chromosomen & Kultur.

(Ist das Komma da richtig?)

Zitat:Im Grunde muss man alle Gegensatzpaare als nicht echt komplementär ausschließen, wenn sich bei ihnen ein "sowohl ... als auch ..." und/oder ein "weder ... noch ..." denken lässt.

Zur Gradualität lässt sich auch noch der Aspekt des Zwitter- und Transgenderseins einbringen. 
"Weder Mann noch Frau" ist also durchaus möglich.
Dies funktioniert aber nur nach einem modernen Geschlechterbild, worin sich zeigt, dass Komplementarität von Kultur und Wissens-/Entwicklungsstand abhängig ist, nicht von reiner wissenschaftlicher Theorie.
Ein weiteres Beispiel:
Fest als Komplement zu flüssig.
Aus heutiger Sicht gibt es mehr als drei Aggregatzustände, früher (ohne mich jetzt auf eine Epoche festzulegen) waren fest und flüssig unhinterfragt die einzigen.

Zitat:Gradualität würde ich dabei immer mit berücksichtigen und auch, dass verschiedene Eigenschaften zum Mannsein beitragen dürften. Gewichtung ist damit gut vereinbar.    Chromosomen & Kultur. 

(Ist das Komma da richtig?)

Nein, das Komma gehört vor "und auch", weil es sich um koordinierende Konjunktionen handelt.


LG~Y

Danke für die interessante Diskussion! :) Über eine graduelle Unterscheidung habe ich auch nachgedacht. Aber bräuchte man dafür nicht zwei Endpunkte (z.b. Mann und Frau) und alle anderen müssten sich als "dazwischen" sehen?(Zumindest nach den Lehrbuch-Relationen wie ich sie kenne) Ich kann mir vorstellen, dass das einige modernere Geschlechterbilder nicht abbildet.
Es kommt vermutlich auch darauf an, was man beschreiben will, also die semantische Relation des heutigen Wissensstandes, eines früheren, die "reale", die eines AFDlers oder von jemandem, der sich als genderfluid oder ähnliches sieht.

(22.01.2018, 22:47:04)reger schrieb: Danke für die interessante Diskussion! :) Über eine graduelle Unterscheidung habe ich auch nachgedacht. Aber bräuchte man dafür nicht zwei Endpunkte (z.b. Mann und Frau) und alle anderen müssten sich als "dazwischen" sehen?

Nein. Für eine funktionierende Skala braucht man zwei definitive Punkte, die müssen aber nicht zwingend die Enden sein, siehe z.B. die Celsiusskala: Die definiert zwei Punkte, 0° und 100° und damit mittelbar auch die Schrittgröße, aber man kann die Skala in beide Richtungen über diese Punkte hinweg verlängern. Das ist übrigens auch der Grund, warum Physiker/Geologen und Sprachnörgler regelmäßig aufschreien, wenn in den Medien von der "nach oben offenen Richter-Skala" die Rede oder Schreibe ist, weil solche Skalen quasi naturgemäß immer offen sind.