Tobias A. Kroll > 08.11.2013, 18:12:31
Hallo Mister, G.,
Ich höre da zwei Fragen: 1. Wie kann ich dem Schüler helfen?, und 2. Was geht hier vor? (theoretische Erklärung).
Zur ersten Frage: du erwähnst, dass der Schüler ansonsten gut mitkommt. Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass sein Problem tatsächlich aufs Lautlesen/Vorlesen beschränkt ist, wie du ja auch vermutest. Kannst du das irgendwie überprüfen, z.B. mit einem Silent reading test (sorry, weiß gerade nicht, wie das auf deutsch heißt)? D.h. irgendein Testinstrument, das Leseverstehen beim "für-sich-selbst-lesen" erfasst? Wenn der Schüler dabei gut abschneidet, wäre das ein klarer Hinweis, dass er tatsächlich nur Vorleseschwierigkeiten hat.
Zur zweiten Frage: die Literatur hier in den Staaten teilt Lesefähigkeiten gerne wie folgt auf:
1) schlechter Vorleser | 2) schlechter Vorleser
schlechtes Leseverständnis | gutes Leseverständnis
_________________________________________________
3) guter Vorleser | 4) guter Vorleser
schlechtes Leseverständnis | gutes Leseverständnis
1) sind Kinder mit generellen Leseproblemen, möglicherweise aufgrund einer generellen Sprachentwicklungsstörung. 2) sind Kinder, die nur mit Vorlesen Probleme haben, möglicherweise aufgrund einer Sprachentwicklungsstörung auf der Lautebene (und nur dort). 3) ist ein "spezifisches Leseverständnisproblem", möglicherweise basierend auf Sprachentwicklungsproblemen außerhalb der Lautebene. 4) sind die guten Leser. Nach diesem Modell müsste man also herausfinden, ob dein Schüler eher unter 1) oder unter 2) fällt.
Das Problem mit diesem Modell: Kategorie 2) ist umstritten. In den Staaten wird das gerne als "dyslexia" diagnostiziert (nicht zu verwechseln mit der deutschen "Dyslexie"!), aber manche Leseforscher halten das für eine überflüssige Kategorie, da "Vorlesen" außerhalb des Schulunterrichts keine wirklich wichtige Kompetenz darstellt.
Noch schlimmer, es wird vermutet, das manche Schüler in Kategorie 3) landen, weil in der Schule ZU VIEL Gewicht auf Vorlesen gelegt wird und zu wenig auf Leseverständnis. (Wahrscheinlich nicht der einzige Faktor, aber dennoch erwähnenswert.) Wenn sich also wirklich herausstellt, dass dein Schüler unter 2) fällt, bist du als Pädagoge gefragt: Du müsstest dann irgendwie sicherstellen, dass er die Vorlesekompetenz erwirbt, die von der Schule verlangt wird, ohne seine anderen Kompetenzen zu vernachlässigen.
Gutes Gelingen! Und halt mich auf dem Laufenden, wenn du magst. Ich schreib gerade meine Diss über Kategorie 3), bin also echt interessiert am Thema.
Tobias