Vergangenheitsform für Substantive

Gibt es in irgendeiner Sprache eine Vergangeheitsform für Substantive, und wenn ja, wie wird die gebildet?

Hintergrund und Beispiel: mir fehlt ein solches Konstrukt für das Wort Missbrauchsopfer, wenn es um Erwachsene geht, die in ihrer Kindheit Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Der eigentliche Opferstatus bezieht sich auf ein Geschehen in der Vergangeheit, hat aber eine große Auswirkung auf das Leben bis in die Gegenwart. Im Erwachsenenalter entweder von sich selber oder von anderen als Opfer bezeichnet zu werden, führt zu Mißverständnissen, insbesondere dem Vorwurf, dauerhaft eine Opferrolle einnehmen zu wollen. Z.t. zumindest ist die Sprache dafür verantwortlich, weil es einfach zu lange dauert immer einen Nebensatz zu brauchen “Erwachsene, die in ihrer Vergangeheit...”.

Meine einzige Idee im Deutschen wäre die vorangestellte Silbe “Ver”. Vermissbrauchsopfer. 

Man kann sich natürlich auch schöne Beispiele vorstellen, wie z.B “ich bin Verweltmeister im Boxen”, um auszudrücken, dass man in der Vergangenheit einen oder mehrere Weltmeistertitel im Boxen erworben hat, worauf man in der Gegenwart sehr stolz ist, aber man gegenwärtig nicht Träger dieses Titels ist.

Wenn es eine Sprache gäbe, die das kann, könnte man vielleicht davon lernen, und das Konstrukt in die deutsche Sprache einbringen!

Ich denke, dass 'Ex-' hier das etablierte Präfix im Deutschen wäre. Alternativ ginge als periphrastische Konstruktion zum Beispiel auch 'ehemalig': 'Ex-Weltmeisterin', 'ehemaliger Weltmeister'. S. a.: https://www.dwds.de/wb/ex-#2

Allerdings hat 'Ex' für mich persönlich gelegentlich einen etwas "trivialisierenden" Beiklang. Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht und ob es daher dem genannten Anwendungszweck möglicherweise nicht gerecht wird. 'Ex-Missbrauchsopfer' neben Ex-Freund', 'Ex-Vorstandsvorsitzende' und 'Ex-Knacki' klingt für mich jedenfalls etwas befremdlich. Ich glaube, 'ehemalig' würde ich bevorzugen.

Beispiele aus anderen Sprachen (sowie ein Fachterminus dafür) fallen mir gerade nicht leider nicht ein.

Das wird in der sprachtypologischen Literatur unter "nominal tense" / "Nominaltempus" abgehandelt und derlei gibt es in einigen Sprachen Südamerikas. 
Einen Überblicksartikel gibt es hier: https://www.researchgate.net/publication...erspective

Und mit "Noch-Mann" kann man ausdrücken, dass der Betr. noch der Mann von ... ist, aber nicht mehr lange.

Etablierte Formen sind aber auch substantivierte Partizipformen. Da die Partizipien von Verben den Aspekt/Tempus bewahren, können sie oft an solche Stellen treten, aber natürlich nicht, ohne nicht selbst Probleme zu verursachen.
Das Partizip der Vergangenheit produziert als Substantiv meist ein Objekt/Experiencer/Patiens etc. und auch mit Vergangenheitsbedeutung, zumindest der Einstieg der Verbhandlung begann in der Vergangenheit. 
"Missbrauchte" trägt diese Bedeutung, einmal sowieso die Opferrolle als Patiens, aber auch die Vergangenheitsbedeutung des Verbs.
"Missbrauchende" hat dann natürlich die aktive Bedeutung als Agens und eine Gegenwartsbedeutung.

Die Vorsilbe mit "ex-" funktioniert nur bei einem kleinen Set von Wörtern, vor allem solchen, die einen Titel bezeichnen, den man wieder verlieren kann, ohne aber das (ehemalige) Tragen dieses Titels rückgängig zu machen. "Exweltmeister" bedeutet, man war mal Weltmeister, ist es nun aber nicht. Bei anderen Sachverhalten, die etwas schwammiger sind, wie Verbhandlungen, würde das andere Dinge bewirken, die semantisch von den meisten wohl als unmöglich angesehen würden. "Exmissbrauchsopfer" würde nicht einfach bedeuten, es passierte in der Vergangenheit ohne Auswirkungen auf das Heute, sondern es klänge eher wie ein kruder Verein, der ähnlich der Homosexuellenkonversionstherapie aus Missbrauchsopfern Menschen machen kann, die nie missbraucht wurden.

Zitat:Hintergrund und Beispiel: mir fehlt ein solches Konstrukt für das Wort Missbrauchsopfer, wenn es um Erwachsene geht, die in ihrer Kindheit Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Der eigentliche Opferstatus bezieht sich auf ein Geschehen in der Vergangeheit, hat aber eine große Auswirkung auf das Leben bis in die Gegenwart. Im Erwachsenenalter entweder von sich selber oder von anderen als Opfer bezeichnet zu werden, führt zu Mißverständnissen, insbesondere dem Vorwurf, dauerhaft eine Opferrolle einnehmen zu wollen. 

Ich glaube eher, dass hier das Problem darin liegt, dass du unbedingt das Wort "-opfer" nehmen willst, ohne dass es noch immer "Opfer" bedeutet. Benutz doch einfach "missbrauchte Person", dann musst du keine Assoziation mit "Opfer" provozieren, sprichst aber semantisch genau. Aber anders als mit "Ex-" arbeiten zu können, ist "Opfer" nicht wirklich ein veräußerbarer Titel, der einfach ablegbar ist. Um aber eine semantische Bedeutung zu erzeugen, die deiner Vorstellung entspricht, musst du wahrscheinlich einfach eine andere Wortwahl wählen. "Missbrauchopfer" will ja eben genau das bedeuten: Man wurde missbraucht und sieht sich selbst als Opfer, oder es wird einem unterstellt, man sei (noch) das Opfer, bzw. dass es sprichwörtlich aufgefasst wird, dass man missbraucht wurde, was nicht rückgängig gemacht werden kann. "Vermissbrauchopfer", um auszudrücken, man sei kein Opfer mehr, hat da eine gewisse Diskrepanz, weil der Kopf des Kompositums immer noch "Opfer" ist und die Vorsilbe "Ver-" natürlich noch keinen Status für diese Bedeutung hat. "das ehemalige Missbrauchsopfer" würde deiner Bedeutung näher kommen, aber weil das Konzept an sich kein gängiges ist, also dass man sich ganz deutlich davon abgrenzen will, kein Opfer mehr zu sein, wird es nicht deutlich verstanden. Wie gesagt, "Opfer" ist nicht so eindeutig ein Titel, der durch eine Vorsilbe als "abgelegt" markiert werden kann, deswegen ist das Wortbildungsmuster nicht so einfach.

Ich glaube, eine ähnliche "Diskrepanz" gibt es heute auch bei dem Ausdruck "ich leide unter ..." und man dann einen medizinschen Zustand nennt, unter dem man eigentlich gar nicht aktiv 'leidet'. Hier sieht man, dass "leiden" seine ursprüngliche Bedeutung verändert hat. Ich habe schon gelesen, wo jemand schrieb "Ich leide unter Pareidolie." (Also Muster sehen, wo keine sind.) Aber jeder hat das, und man leidet nicht darunter. Theoretisch wäre für mich "Ich leide unter Farbenblindheit." auch irreführend, weil ich nicht leide, aber der Ausdruck benutzt wird, um einer Person ein medizinischer Zustand zuzuweisen. Ähnlich verhält es sich hier bei "Opfer". Man muss sich nicht immer noch als aktives Opfer sehen, um in der Vergangenheit mal einem Missbrauch untergangen zu sein und diese lexifikalisierten Zuschreibung zu bekommen. "-opfer" hat hier eine gewisse Bedeutungsänderung bekommen zu haben, ich würde mich da gar nicht so sehr drauf aufhängen. (Und ich will hier Missbrauch nicht runterreden, damit das klar ist.)

Sprache entsteht ja auch durch Prägung von gewissen Kombinationen durch Morpheme und dann eine Lexifizierung, bzw. dass ein Ausdruck zumindest eine gängige Kombination wird. Dazu muss das Konzept wahrscheinlich der Sprache vorausgehen, zuerst würde es umständlich formuliert werden, bis der Drang nach einer kürzeren Ausdrucksweise stärker wird, weil es so geläufig ist.

Vielen Dank erst mal an alle für die schnellen Antworten. Die allgemeine Frage ist zu meiner grössten Zufriedenheit mit dem Artikel beantwortet worden: es gibt sie die Sprachen mit Nominaltempus :). Grundsätzlich erscheinen mir  Dinge und Menschen und wie sie in Beziehung stehen der Zeit unterworfen, und insofern ist es beruhigend, dass zumindest einige Sprachen das auch direkt ausdrücken können.

Speziell für das Wort Missbrauchsopfer, bin ich mir durch Kevin’s Antwort - danke für die Ausführlichkeit - noch klarer geworden, dass ich das Wort “Opfer” sicher nicht loslassen will. Schon beim Schreiben hatte ich Konstrukte wie “Missbrauchsgeschädigte” verworfen, weil sie mir zu technisch klangen. Missbrauchte/Missbrauchende hatte ich kurz angedacht, da war mir aber der Zeitbezug zu vage. Opfer wollte ich aber drinlassen, weil das der Stachel im Fleisch der Gemeinschaft ist (der Teil war mir bewusst), und das hat Kevin richtig in den Mittelpunkt dieser Frage gestellt.

Diverse Gedankengänge in kurz: Zum Wort Opfer gehören die Worte Täter, Sühne, Versöhnung, Opfer-Täterausgleich etc. ohne Sühne (oder Versöhnung) keine Gleichstellung von Opfer und Täter in der Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, die keinen Prozess der Sühne ermöglicht, muss von daher entweder Druck auf die Opfer ausüben, sich mit dem Täter auch ohne Sühne zu versöhnen (aka Missbrachsgeopferte), oder aber es bleibt eine offene Wunde (auch im Assoziationsraum von “Opfer”) in der Gemeinschaft. Grammatikalisch stellt in diesem Sinne ein Opfer ohne Sühne des Täters und ohne die Versöhnung mit dem Täter eine “vollendete Gegenwart” dar.

D.h. die Antwort zum Vorwurf in der Opferrolle bleiben zu wollen ist, dass von Wollen keine Rede sein kann, dass man aber einen Prozess der Sühne oder aber einen Opfer/Täterausgleich einfordert, denn ohne solche Prozesse gibt es keine Gleichstellung von Täter und Opfer in der Gemeinschaft, ausser durch eine ethisch fragwürdige Forderung an die Opfer, sich einseitig und ohne Sühne versöhnen zu lassen. 

All das kann nur das Wort Opfer, und damit bleibt es ein ungemütlicher Begriff für alle Beteiligten!

Hmm, ich glaube, ich kann dem nicht mehr ganz folgen, weil es schon noch ins Philosophische geht oder zumindest ins assoziativ Semantische.

Zitat:Grammatikalisch stellt in diesem Sinne ein Opfer ohne Sühne des Täters und ohne die Versöhnung mit dem Täter eine “vollendete Gegenwart” dar.

Zum Beispiel verstehe ich das nicht ganz. Also du meinst sicher "analog grammatikalisch", aber wenn die Bedeutung von Opfer seine Bedeutung beibehält unter aktuellen Umständen, da keine vollzogene Sühne und keine Versöhnung, dann ist es ja keine vollendete Gegenwart, weil von dem Bedeutungsbestandteil "Opfer" nichts vollendeter ist als vorher. 

Ich hatte ja schon angemerkt, dass lexikalisierte Wortbildungen mit "-opfer" oftmals Bedeutungsbestandteile eingebüßt haben. Zum Beispiel bedeuten "Opfer" und "(Missbrauchs)opfer" nicht zu 100% mehr das gleiche in meinen Augen. Das letzte trägt eher nur noch die Bedeutung, dass einem etwas widerfahren ist, was man partout nicht wollte. Dieser gleiche Umstand ist aber zu jedem Zeitpunkt in der Zukunft immer noch valide, egal welche Haltung man später hierzu hat. Deswegen ist es schwierig, durch morphologische Wortbildungsmuster hierauf Einfluss auszuüben. Der Missbrauch ist immer noch passiert, immer noch gegen den Willen der Person. Eine eventuelle soziale Relation hierzu oder die mentale Haltung zu dem Status, müssen anderweitig ausgedrückt werden.

Wenn du aber mentale Haltungen gegenüber dem Umstand und der Selbstreferenz zu dem Missbrauchsumstand ausdrücken willst, bezweifle ich, dass es so einfach geht, wie mit einem Präfix oder so. Dazu ist Deutsch zu wenig polysynthetisch. Man ist auch zu verwöhnt im Deutschen, die meisten Komposita, die wir haben, entsprechen zum Beispiel Adjektiven im Polnischen. Wenn du es vergleichend betrachtest, steht Deutsch immer noch nicht an vorderer Stelle. In den Inuit-Sprachen kannst du da sicherlich noch viel mehr draus machen. ;) (In vielen Gebärdensprachen sicher aus, weil du synchron gut mentale Kommentare als Simulfix einbauen kannst, selbst bei Nomen bei Bedarf.)

Ich glaube, du willst sagen, wenn Sühne und Versöhnung vollzogen sind, ist das Opfer per definitionem kein Opfer mehr, weil die Schuld ausgeglichen ist? Ich denke einfach, dass erstens, eine Tempusmodifikation an {OPFER} das Dilemma nicht löst, weil dazu die soziale und mentale Haltung nicht kodierbar ist im Deutschen. Eine bloße Tempus-Markierung würde bloß sagen, dass du zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit Opfer warst. Du willst ja hier aber auch noch den Aspekt einbringen, dass es in der Vergangenheit vollendet war. Aber auch das ist nicht so einfach bei der Bedeutung von "Opfer", weil du ja eher auf die soziale Funktion und den mentalen Kommentar anspielst. Dazu ist Tempus und Aspekt zu strikt und binär, um solche Kommentare markieren zu können. Und zweitens ist das auch keine gängige deutsche Ausdrucksweise. Da musst du leider mit einem Nebensatz, Kommentar oder vielleicht gut gewählten Adjektiven arbeiten. Selbst "ehemaliges Opfer" würde eher bedeuten, dass es tot ist, "Ex-Opfer" bedeutet vielleicht eher, dass das Opfer sich aus der toxischen Beziehung lösen konnte, anstatt dass der Status von "Opfer" abgelegt wurde. 
Aber, wenn das Konzept, das du beschreibst, sehr gängig wird als Möglichkeit in einer deutschsprachigen (weil wir hier von Deutsch reden) Gemeinschaft, käme "Opfer" einem Titel gleich, der veräußerbar ist. Und dann würde "Ex-" theoretisch irgendwann produktiv werden können, weil es für solche Zwecke dienlich ist.

Die Unterscheidung in Beschreibung eines Umstandes, einer mentalen Haltung, und einer sozialen Relation finde ich sehr nützlich. Danke dafür.

Ich freunde mich mit dem Begriff des “Ex-Mißbrauchsopfers” an, wenn es um eine mentale Haltung geht. Das Interessante daran ist, dass er wie bei Ex-Freund / Ex-Mann, eine Trennung zum Ausdruck bringt, gleichzeitig aber das Fortbestehen einer nun neu bewerteten Beziehung andeutet. 

Um die soziale Relation von Tätern und Opfern innerhalb einer Gemeinschaft zu beschreiben, und den Verlauf der Relation von “aktuellem Geschehen”, über ungesühnte Taten, hin zu gesühnten Taten, muss ich ganze Sätze bemühen, was aber nicht so falsch ist, weil das fehlen geeigneter Worte dafür vielleicht auch bedeutet, daß eine solche Unterscheidung auch konzeptuell nicht selbstverständlich ist und längerer Erklärung bedarf.

Du musst allerdings sehr vorsichtig sein. Wörter können nur etwas beschreiben, was schon da ist als Konzept. (Natürlich gibt es auch Einhörner, aber nur weil sie ein Konzept sind.)
Wenn der Opferstatus durch einen gesellschaftlichen Konzeptwandel zu einem veräußerbaren Titel wird, erst dann wird das Wort auch als solches verstanden. Ihn jetzt zu benutzen, ist nicht möglich, weil er nicht neutral ist und zudem missverständlich. Aber das ist dir ja wahrscheinlich bewusst und dass das eine Was-wäre-wenn-Diskussion war. Gerade bei dem Thema Missbrauch bedarf es viel Vorsicht.