(05.06.2013, 11:21:33)JPL schrieb: Genus ist grundsätzlich eine rein grammatische Kategorie, da sich zahlreiche Dinge außer zweigeschlechtliche Lebewesen gar keinem Geschlecht zuordnen lassen.
Genus ist eben nicht grundsätzlich eine grammatische Kategorie (im Deutschen, wohlgemerkt, das meinte ich auch in meinem Post, als ich das das erste Mal erwähnt habe). Dass sich „ich zahlreiche Dinge außer zweigeschlechtliche Lebewesen gar keinem Geschlecht zuordnen lassen“ ist übrigens in meinen Augen ein („so-la-la“) Sexus-Argument und kein Genus-Argument. Aber zurück zu Genus als grammatischer Kategorie.
Man kann diese Fragestellung von verschiedenen Seiten angehen.
Erstmal kann man sich die Einordnung von Genus in verschiedenen Grammatik-Theorie-Richtungen ansehen. Zwei nehme ich hier mal als Beispiel: aus strukturalistischer Sicht ist Genus keine grammatische Kategorie, da es arbiträr vergeben wird. Es herrscht keine paradigmatische Wahlmöglichkeit, das Genus ist dem Lemma im Lexikon inhärent. Das ist in etwa das, was man früher den Kindern in der Schule oder auch L2-Lernern vermittelt hat, wenn man gesagt hat „Das kannst du nur auswendig lernen.“ Aus Sicht der usage-based grammar ist Genus sehr wohl eine grammatische Kategorie, es wird motiviert vergeben – das kann etwa beispielsweise ein Feldgenus sein, bei dem Mitgliedern eines bestimmten Felds, etwa der Obstbezeichnungen, immer das selbe Genus zugewiesen wird mit der Zeit. Wer das jetzt gerade nicht parat hat: Obst ist im Deutschen prinzipiell Feminin, außer dem Apfel und dem Pfirsich. Der Überbegriff „Obst“ an sich ist Neutrum, die Basisbegriffe Feminin (und auch neue Obstsorten werden nach anfänglichen Mehrfachgenus-Phasen, weil sie evtl. in der Ausgangssprache ein anderes Genus haben, eingegliedert: siehe Lychee, Kumquat, Bergamotte, Ugli, Pitahaya, … vgl. etwa Mango, die von der Lautstruktur und von ihrem Ursprungsgenus im Spanischen maskulin sein müsste). Diese Felder lassen sich auch gut bei Appelativa nachweisen, etwa bei Auto- und Städtenamen, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Die Aufgabe des Genus besteht natürlich erstmal in der Kategorisierung.
@janwo hatte schon ganz Recht, als er angemerkt hat, dass sich maskuline und neutrale Deklination im Deutschen sehr ähnlich sind. Das liegt daran, dass im Deutschen de facto eigentlich nur nach [+feminin] und [-feminin] klassifiziert wird. Die Tendenz zur Angleichung von den Deklinationsklassen neben der femininen ist etwa seit dem Althochdeutschen beobachtbar, daher kann man auch diese Aussage treffen.
Die Kategorisierung, die man mit Genus vornimmt, ist weitgreifender, als es zunächst anmuten mag und die Motivation, Substantive mit einem Genus zu versehen, ist tiefgreifend:
(a) syntaktische/syntagmatische Notwendigkeit, da man erst durch Genus Eigenschaften auf Positionen im Syntagma abbilden kann um so Referenzen herzustellen (Stichwort Target – Controller)
(b) grammatisch: Flexionsmöglichkeiten werden sortiert und zugeordnet
(c) semantisch: entscheidet zwischen z.B. Individua, Kollektiva, Kontinua, Abstrakta, etc.
(d) pragmatisch: stellt Bezug zum Feld her
Die verschiedenen Aspekte (die noch nicht alle sind) breite ich jetzt mal nicht alle mit aus, das wird dann wirklich tl;dr.
Zugewiesen wird Genus nur bei ca. 20% der Nomina im Deutschen arbiträr/willkürlich vergeben, d.h. dass ihre Genuszuweisung bereits lexikalisiert und damit Teil des Lexikoneintrags geworden ist. Zuweisungsprinzipien kann man dann noch zusätzlich zu dem schon genannten Feldgenus, das je nach Literatur referentiell oder pragmatisch sein kann, in phonologisch (z.B. die Tendenz bei bestimmten Anlautmustern: [kn]- führt fast immer zu Maskulina:
Knopf, Knall, Knick oder auch Ablautmustern), morphologisch (etwa bei Letzgliedprinzip,
-heit, -keit, -schaft, -ung bilden nur Feminina, etc.) und semantisch (die dem Lexem inhärente Wortbedeutung bestimmt) aufspalten. Schließlich gibt es noch das, was man auch als referentielles Genus bezeichnen kann: dadurch, dass ein Referenzobjekt bekannt ist, kann Genus zugewiesen werden. So etwa bei
Gast, Mitglied, etc..
Das Fass kann man noch weiter aufmachen, wenn man noch Belebtheit etc. mit einbezieht, aber das reicht vielleicht erstmal als Denkanstoß. Generell subsummiert sich alles daraufhin, dass Genus eben nur zum Teil eine grammatische Kategorie ist. Anders gesagt: es ist keine absolute grammatische Kategorie. Man kann da jetzt anfangen, den Begriff als zu eng gefasst anzusehen und sich darauf zu einigen, dass es zumindest eine Kategorie ist, ob nun eine grammatische, lexikalische, semantische oder ,Mix-Kategorie', das sei mal dahin gestellt. Zumindest erscheint der Versuch, das absolut abgrenzen zu wollen, nicht sinnvoll.
Vergleiche dafür u.a.:
Corbett, Greville (1991): Gender. Cambridge.
Köpcke, Klaus-Michael & David A. Zubin (2009): Genus. In: Elke Hentschel / Petra M. Vogel: Deutsche Morphologie. Berlin: de Gruyter, 132-154.
Leiss, Elisabeth (2005). Derivation als Grammatikalisierungsbrücke für den Aufbau von Genusdifferenzierung im Deutschen. In: T. Leuschner, T. Mortelmanns and S.D. Groodt, Grammatikalisierung im Deutschen. Berlin, New York: 11-30.Nübling, Damaris und Fabian Fahlbsch (im Erscheinen): Genus unter Kontrolle: Referentielles Genus bei Eigennamen – am Beispiel der Autonamen. Mainz.
Werner, Martina (2010): Substantivierter Infinitv statt Derivation. Ein 'echter' Genuswechsel der Kodierungstechnik innerhalb der deutschen Verbalabstraktbildung. In: Dagmar Bittner & Livio Gaeta (Hrsg.): Kodierungstechniken im Wandel. Das Zusammenspiel von Analytik und Synthese im Gegenwartsdeutschen. Berlin/New York: de Gruyter, 159-178.
(05.06.2013, 11:21:33)JPL schrieb: andere Sprachen kennen durchaus Unterscheidungen wie "belebt/unbelebt", "große DInge/kleine Dinge" oder so abstruse Klassen wie "rote Dinge" oder "Speere".
Unsere Sprache kennt die [+belebt] vs. [-belebt] Unterscheidung auch. Wenn man sich einige Genuszuweisungsprinzipien ansieht, macht es einen großen Unterschied, ob das zu Bennende belebt oder unbelebt ist. Klassen wie „rote Dinge“ etc. sind dabei keineswegs abstrus: andere
Länder Sprachen, andere Sitten. Des Linguisten Lieblingsbeispiel ist doch sicher Dyirbal, dessen Kategorienbildung man in Lakoff's
Women, Fire, and Dangerous Things nachvollziehen kann und das auch in den Einführungen eigentlich immer genannt wird bei dieser Thematik.
(05.06.2013, 11:21:33)JPL schrieb: in irgendeiner Sprache gehören Elefanten tatsächlich zur Nominalklasse "kleine Dinge" und - meines und wohl auch Guy Deutschers Lieblingsbeispiel - Flugzeuge gelten bei einigen Menschen genusmäßig als eine Art von Gemüse (bzw. als fliegende Kanus, aber Kanus gehören auch zum Gemüsegenus).
In welcher sind die Elefanten denn kleine Dinge? So als Anekdoten-Untermauerung, kann man nächstes Mal neben Lakoff bestimmt gut anbringen.
Das mit den Flugzeugen ist zumindest fürs Deutsche so nicht belegt. Dort ist die Motivierung, Flugzeuge mit femininem Genus zu bezeichnen noch nicht hinreichend überprüft, genau wie etwa bei Motorrädern oder Schiffen.