Registriert seit: 27.01.2017 20:44
Beiträge: 424 | Themen: 17
Bewertung:
20
Pronomen/Geschlecht: nichtbinär (en oder sie)
15.03.2022, 04:09:47
Hallo! (:
Mir kommt es in Wörterbüchern, die das Hochdeutsche dokumentieren, immer wieder unter, dass ein vokalisiertes /r/ nach den geschlossenen Vokalen [i], [ɪ], [u], [ʊ], [y] und [ʏ] als [ɐ̯] transkribiert wird, genau wie nach [a], [e], [ɛ], [o], [ɔ], [ø] und [œ].
Dabei wird es (zumindest in meinem Empfinden) nach Vokalen der ersteren Gruppe merklich anders realisiert als nach denen der letzteren, und zwar als e-Schwa [ə̯].
Ist das einfach eine Konvention, das Phonem /ʁ/ nach einem Vokal einheitlich darzustellen, ohne auf die Unterschiede zwischen den Allophonen zu achten? Oder ist der Unterschied doch geringer, als ich ihn wahrnehme? Ich beginne langsam an mir zu zweifeln.
LG
Yaouoay
Registriert seit: 16.11.2004 13:05
Beiträge: 2.987 | Themen: 102
Bewertung:
32
Pronomen/Geschlecht: männlich
Affiliation: Studienkolleg Indonesia · WWU
Allophonische, d.h. phonologische, Unterschiede werden in den meisten Wörterbüchern nur dort berücksichtigt, wo sie auffällige Unterschiede produzieren, also z.B. standardhochdeutsch [ç] vs. [x] für den CH-Laut, abstrahiert /x/. Das was den Sprechenden/Hörenden egal ist, wird nicht markiert. Daher wird der phonetische Unterschioed zwischen /x/ in Nacht und /x/ in Loch, also [x] vs. [χ]. Das wäre höchstens etwas für eine phonetische Transkription.
Rein phonetisch gesehen sind [ç], [x] und [χ] klar voneinander unterscheidbar. Auf phonologischer Ebene ist für die meisten Sprachteilhabenden der Unterschied zwischen dem ersten und einem der beiden anderen klar hörbar, der zwischen dem zweiten und dritten jedoch normalerweise nicht.
Es gibt viele kleine Unterschiede in der Artikulation, die ein geübtes Ohr wahrnehmen kann, die aber für die Phonologie nicht weiter interessant sind. Die zwei SCH-Laute in schieben und schubsen unterscheiden sich phonetisch betrachtet auch [ʃʲ vs. ʃʷ], phonologisch gesehen sind sie aber gleich.
So ist es auch mit der R-Vokalisierung im Auslaut. Der Ausspracheduden beispielsweise führt im Vorspann auf, welche subphonematischen Variationen es gibt, die im Wörterverzeichnis nicht stets als Alternativen aufgeführt werden. Eine davon ist /r ~ ɐ/ in diversen Umgebungen. Im Aussprachewörterbuch von Siebs wird diese Vokalisierung ebenfalls kurz erklärt und dann, da "nicht zur Hochlautung gehörig" nicht im Wörterverzeichnis als Alternative gelistet.
Registriert seit: 22.09.2009 00:33
Beiträge: 1.308 | Themen: 164
Bewertung:
24
Pronomen/Geschlecht: -keine Angabe-
Affiliation: Uni Bremen
Aus welcher Region kommst du nochmal, Yaouoay? Nach jedem der Vokale ein echtes [ɐ̯] zu sprechen klingt für mich zumindest nicht falsch, bzw. sehr standardlich/hochdeutsch. Damit meine ich aber nicht, dass ich es so mache. Wo ich herkomme gibt es auch viele Varianten für das auslautende /r/. Meine Oma (Ostholstein) hat fast immer ein Schwa, mein ostfriesischer Mitbewohner in breiter, regionaler Aussprache mit Freunden auch, mein Opa und ich und enge Familie aus Südschleswig-Holstein ein [æ~ɛ] bei höherer Aussprache und ein [eæ̯] bei dickem Akzent: <für> klingt in etwa wie [fyˑ ːeɛ̯]. Ich weiß nicht, ob unter beiden Vokalen ein nicht-silbisches Zeichen muss? Oder ob sie zuerst ein Diphthongzeichen kriegen und darunter ein nicht-silbisches? Ich denke, dass gerade solchen filigranen Vokalqualitätsunterschiede von Region zu Region schnell wechseln. Wäre sicher interessant, sie typologisch zu untersuchen, vielleicht etwas für dich? ^^
Registriert seit: 04.04.2011 23:00
Beiträge: 1.052 | Themen: 13
Bewertung:
22
Pronomen/Geschlecht: männlich
15.03.2022, 20:46:18
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 26.04.2022, 13:20:08 von thf.)
Ergänzend zu dem, was Jan schrieb:
Bei der phonetischen Transkription unterscheidet man zwischen enger und breiter Transkription. Damit ist der Detailgrad der Transkription gemeint, der sich auf einem Kontinuum bewegt.
Die breite Transkription lehnt sich dabei oftmals an die phonemische Repräsentation an und erfasst eher eine idealisierte Aussprache. Diese kann man dann schrittweise verfeinern, um zum Beispiel einige gängige Prozesse zu erfassen und dann stückchenweise immer spezifischer zu werden (z. B. Erfassung regiolektaler Aspekte). Die breite Transkription ist also stärker phonologisch orientiert.
Bei einer engen Transkription werden mehr Nuancen erfasst bis hin zu Sprechenden- und Äußerungs-spezifischen Details. Eine sehr enge Transkription unterscheidet sich manchmal sehr deutlich von einer breiten Transkription, weil man zum Beispiel auch Assimilationen usw., die sich beim "natürlichen" Sprechen im Äußerungskontext ergeben, notiert. Die enge Transkription ist also stärker phonetisch orientiert und erfasst auch artikulatorische Details, die phonologisch irrelevant sind.
Daher ist es aus meiner Sicht sinnvoll, sich zu überlegen, was der Zweck einer bestimmten Transkription ist. Bei den Wörterbüchern, die du ansprichst, @ Yaouoay, ist eine breite Transkription, die eben als Aussprachehilfe gedacht ist, zweckdienlicher als eine zu detaillierte. Daher wird der von dir angesprochene Unterschied vielleicht nicht erfasst. Für z. B. forensische Zwecke oder so etwas ist hingegen eine engere Transkription sicher hilfreich.
Registriert seit: 27.01.2017 20:44
Beiträge: 424 | Themen: 17
Bewertung:
20
Pronomen/Geschlecht: nichtbinär (en oder sie)
Vielen Dank für Eure Antworten! (:
janwo schrieb:Allophonische, d.h. phonologische, Unterschiede werden in den meisten Wörterbüchern nur dort berücksichtigt, wo sie auffällige Unterschiede produzieren, also z.B. standardhochdeutsch [ç] vs. [x] für den CH-Laut, abstrahiert /x/. Das was den Sprechenden/Hörenden egal ist, wird nicht markiert. Daher wird der phonetische Unterschioed zwischen /x/ in Nacht und /x/ in Loch, also [x] vs. [χ]. Das wäre höchstens etwas für eine phonetische Transkription.
Rein phonetisch gesehen sind [ç], [x] und [χ] klar voneinander unterscheidbar. Auf phonologischer Ebene ist für die meisten Sprachteilhabenden der Unterschied zwischen dem ersten und einem der beiden anderen klar hörbar, der zwischen dem zweiten und dritten jedoch normalerweise nicht.
Dann ist es letztendlich Ermessenssache, bei welchen Phonemen es sinnvoll ist, in der Transkription die Allophone zu differenzieren? Oder gibt es dafür eine Konvention?
In meinem Empfinden ist der Unterschied zwischen [ax] und [aχ] unauffällig, der zwischen [yə̯] und [yɐ̯] hingegen nicht. Bei letzterem Paar würde ich die zweite Variante meist klar als von meinem Regiolekt abweichend identifizieren, bei ersterem kaum.
Deshalb kam es mir bisher immer wie ein Fehler vor, wenn in der Transkription das a-Schwa verwendet wird, wo ich phonetisch ein e-Schwa realisiere. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Unterscheidung zwischen den beiden Schwas in anderen Kontexten bedeutungskritisch ist (z. B. dieser Schüler vs. diese Schüler), die Unterscheidung zwischen [x] und [χ] oder [ʃʲ] und [ʃʷ] hingegen nie.
janwo schrieb:Es gibt viele kleine Unterschiede in der Artikulation, die ein geübtes Ohr wahrnehmen kann, die aber für die Phonologie nicht weiter interessant sind. Die zwei SCH-Laute in schieben und schubsen unterscheiden sich phonetisch betrachtet auch [ʃʲ vs. ʃʷ], phonologisch gesehen sind sie aber gleich.
Kevin schrieb:Aus welcher Region kommst du nochmal, Yaouoay? […] Ich denke, dass gerade solchen filigranen Vokalqualitätsunterschiede von Region zu Region schnell wechseln. Wäre sicher interessant, sie typologisch zu untersuchen, vielleicht etwas für dich? ^^
Interessanterweise ist mir erst vor Kurzem aufgefallen, dass in meinem Regiolekt (ich komme aus Berlin) das /ʃ/ meist labialisiert wird, was wohl oft der Grund ist, warum benachbartes /ɪ/ gerundet wird:
[fʏʃʷ] für Fisch statt [fɪʃ]
[ʃʷʏə̯m] für Schirm statt [ʃɪə̯m]
janwo schrieb:So ist es auch mit der R-Vokalisierung im Auslaut. Der Ausspracheduden beispielsweise führt im Vorspann auf, welche subphonematischen Variationen es gibt, die im Wörterverzeichnis nicht stets als Alternativen aufgeführt werden. Eine davon ist /r ~ ɐ/ in diversen Umgebungen. Im Aussprachewörterbuch von Siebs wird diese Vokalisierung ebenfalls kurz erklärt und dann, da "nicht zur Hochlautung gehörig" nicht im Wörterverzeichnis als Alternative gelistet.
Kevin schrieb:Nach jedem der Vokale ein echtes [ɐ̯] zu sprechen klingt für mich zumindest nicht falsch, bzw. sehr standardlich/hochdeutsch. Damit meine ich aber nicht, dass ich es so mache.
Ich ging davon aus, dass es sich beim vokalisierten /r/ um Hochlautung handelt, auch bei der Unterscheidung zwischen e-Schwa und a-Schwa je nach Vokalrundung. Das ist anscheinend noch variabler, als ich dachte.
Bei den Aussprachebeispielen des Wiktionarys höre ich oft ein e-Schwa nach den gerundeten Vokalen heraus (z. B. hier), auch wenn mit a-Schwa transkribiert. Hier finde ich es allerdings weniger eindeutig. Dann gibt es wohl selbst innerhalb der Hochlautung Variationen.
thf schrieb:Die breite Transkription lehnt sich dabei oftmals an die phonemische Repräsentation an und erfasst eher eine idealisierte Aussprache. Diese kann man dann schrittweise verfeinern, um zum Beispiel einige gängige Prozesse zu erfassen und dann stückchenweise immer spezifischer zu werden (z. B. Erfassung regiolektaler Aspekte). Die breite Transkription ist also stärker phonologisch orientiert.
Bei einer engen Transkription werden mehr Nuancen erfasst bis hin zu Sprechenden- und Äußerungs-spezifischen Details. Eine sehr enge Transkription unterscheidet sich manchmal sehr deutlich von einer breiten Transkription, weil man zum Beispiel auch Assimilationen usw., die sich beim "natürlichen" Sprechen im Äußerungskontext ergeben, notiert. Die enge Transkription ist also stärker phonetisch orientiert und erfasst auch artikulatorische Details, die phonologisch irrelevant sind.
Daher ist es aus meiner Sicht sinnvoll, sich zu überlegen, was der Zweck einer bestimmten Transkription ist. Bei den Wörterbüchern, die du ansprichst, @Yaouoay, ist eine breite Transkription, die eben als Aussprachehilfe gedacht ist, zweckdienlicher als eine zu detaillierte. Daher wird der von dir angesprochene Unterschied vielleicht nicht erfasst. Für z. B. forensische Zwecke oder so etwas ist hingegen eine engere Transkription sicher hilfreich.
Der Unterschied zwischen breiter und enger Transkription ist mir durchaus bewusst. Ich glaube, ich hatte mich bisher einfach immer daran gestoßen, dass ich die Aussprache von /r/ als a-Schwa nach geschlossenen Vokalen als schlicht nicht hochdeutsch aufgefasst hatte.
Aber durch Eure Ausführungen hat sich mein Bild davon jetzt relativiert, vielen Dank! ^^
Liebe Grüße
Yaouoay
|