Neudeutsch, Kommandodeutsch,... wie heißt es richtig?

Neuerdings begegnen mir immer mehr Nominalreihungen anstelle vollständiger deutscher Sätze/Phrasen, z.B. in Bildunterschriften, etwa in der Tagesschau - z.B.:
"Bundeskanzler Deutschland"
statt "Bundeskanzler von Deutschland "
Oftmals gehen dabei auch Deklinationsendungen verloren, wie z.B.
"Berichtspunkte Präsidium"
statt "Berichtspunkte des Präsidiums".

Wie heißt dieses restringierte Deutsch? Ich für mich nenne es Kommandodeutsch, aber weder unter dieser Eigenbezeichnung noch unter Nutzung obiger Suchstichworte konnte ich die sicher vorhandene korrekte wissenschaftliche Bezeichnung finden.

Wer kann mir helfen?
Serenus Zeitblom

Hallo! (:

Vielleicht könnte das erklärt werden als Analogiebildung zu sog. engen Appositionen wie Bundesrepublik Deutschland, wobei sich in einer Apposition beide Teile auf das Gleiche beziehen, also z. B. beziehen sich sowohl Bundesrepublik als auch Deutschland auf das Land, dessen Hauptstadt Berlin ist. 

Das ist bei Konstruktionen wie Bundeskanzler Deutschland nicht der Fall, auch wenn sie oberflächlich ähnlich aussehen, da sie ebenfalls aus zwei orthographisch unverbundenen Substantiven bestehen. Sie verhalten sich vielmehr wie Komposita, was daran zu erkennen ist, dass bei Umstellung ein normales Kompositum entsteht: Deutschland-Bundeskanzler. Umstellung deshalb, weil Komposita im Deutschen in aller Regel rechtsköpfig sind, das heißt: Das erste Element (Deutschland) bestimmt das zweite Element (Bundeskanzler) näher und nicht andersherum. Im Kurdischen sind linksköpfige Komposita die Regel, z. B. ava pirteqalê, ‚Orangensaft‘, wörtlich: ‚Saft Orange‘ (Scherger & Kliemke, S. 8). 

Konstruktionen wie Bundeskanzler Deutschland könnten also als linksköpfige Komposita bezeichnet werden. Ob sie tatsächlich in Analogie zu engen Appositionen entstanden sind, ist lediglich ein Gedanke.

Liebe Grüße
Yaouoay

Danke für Deine grammatischen Erläuterungen. Ich verstehe sie als den Versuch, solchen Neubildungen eine Deutung auf dem Boden der bestehenden Regeln zu geben.
Allerdings greifen Deine Erläuterungen m.E. nur beim ersten Beispiel, nicht beim zweiten. Und schaut man sich weitere Stilblüten aus der Verwaltung an ("Reinigung Fenster!", "Vertrag Frau Müller"), sehe ich hier eher eine Deklinationscheu, verbunden mit Artikelschwund und Präpositionsphobie.
Insofern ist meine Frage eigentlich wohl eher eine der Soziolinguistik, speziell der Varietätenlinguistik: Wie heißt die durch die hervorgehobenen Merkmale gekennzeichnete Sprachvarietät und was weiß man über die Ursachen ihres Vordringens?
Schöne Grüße
Serenus Zeitblom

Hey, nur als schneller Einwurf, da unterwegs. Aber Niederländisch macht sehr großen Gebrauch von der gleichen Struktur, auch im formellen Bereich. Vielleicht gibt es da auch nochmal Antworten. Hat mich als Lerner immer sehr verwirrt. :)

"Saft Orange" klingt für mich immer noch nach Verwaltungsjargon, so als ob da jemand ein Komma vergessen hat bei einer Subklassifizierung:
Saft, Orange
Saft, Apfel, naturtrüb

Zitat:Allerdings greifen Deine Erläuterungen m.E. nur beim ersten Beispiel, nicht beim zweiten.

Aus meiner Sicht könnte bei Berichtspunkte Präsidium trotzdem noch von einem Kompositum die Rede sein. Selbst bei Vertrag Frau Müller. Es ist bisher im Deutschen vielleicht nicht üblich, diese Konzepte mit rechtsköpfigen Komposita auszudrücken, aber das heißt nicht, dass es allgemein ausgeschlossen ist. Vielleicht ist das sogar der Grund, warum sie sich als linksköpfige Komposita etablieren: um solche Randphänomene abzudecken, die bisher in rechtsköpfigen Komposita nicht wirklich ausgedrückt werden können. 

Zitat:Und schaut man sich weitere Stilblüten aus der Verwaltung an ("Reinigung Fenster!", "Vertrag Frau Müller"), sehe ich hier eher eine Deklinationscheu, verbunden mit Artikelschwund und Präpositionsphobie.

Ich höre aus Deinen Formulierungen eine negative Bewertung dieser Konstruktionen heraus. Und während Du natürlich das Recht hast, sie unschön zu finden, ist es nicht Aufgabe oder Ziel der Linguistik, sprachliche Phänomene zu bewerten. Wir beschreiben sie lediglich und erklären, wie sie zustande kommen. Aus Sicht der Linguistik sind Ausdrücke wie „Reinigung Fenster“ nicht inhärent schlechter als „Fensterreinigung“ oder „Reinigung der Fenster“. Das nennt sich Deskriptivismus (im Gegensatz zum Präskriptivismus, wie ihn Persönlichkeiten wie Bastian Sick vertreten). Selbst in der Soziolinguistik wirst Du nicht wertende Ausdrücke wie „Deklinationsscheu“ oder „Präpositionsphobie“ antreffen.


Liebe Grüße
Yaouoay

(15.03.2024, 01:38:13)Yaouoay schrieb: Es ist bisher im Deutschen vielleicht nicht üblich, diese Konzepte mit rechtsköpfigen Komposita auszudrücken, aber das heißt nicht, dass es allgemein ausgeschlossen ist.

Viel besser: Diese rechtsköpfige Konstruktion aus Nomen plus (üblicherweise nicht flektiertem Modifikator) ist tatsächlich uralt (mindestens Althochdeutsch) und nie so ganz ausgestorben, weswegen wir "Forelle blau" und "Pommes rot-weiß" und "Whiskey pur" und "Westernhagen live" haben. Es war halt bislang nur wesentlich unüblicher für Nomen.

(16.03.2024, 06:01:32)janwo schrieb:

(15.03.2024, 01:38:13)Yaouoay schrieb: Es ist bisher im Deutschen vielleicht nicht üblich, diese Konzepte mit rechtsköpfigen Komposita auszudrücken, aber das heißt nicht, dass es allgemein ausgeschlossen ist.

Viel  besser:  Diese rechtsköpfige  Konstruktion aus Nomen plus (üblicherweise nicht flektiertem  Modifikator) ist  tatsächlich  uralt (mindestens  Althochdeutsch) und nie so ganz ausgestorben,  weswegen wir "Forelle blau" und "Pommes  rot-weiß"  und "Whiskey  pur" und "Westernhagen live" haben. Es  war halt bislang nur  wesentlich unüblicher für Nomen.

Stimmt, daran hatte ich gar nicht gedacht. Vielleicht besonders gut zu sehen an weniger zeitgenössischen Konstruktionen wie Vater unser oder Hänschen klein. Das ist natürlich noch kein Beweis, dass die Konstruktionen, die Zeitblom aufgeführt hat, in irgendeiner Form etwas mit den linksköpfigen Attributen und Possessiva im Alt- und Mittelhochdeutschen zu tun haben, aber es zeigt auf jeden Fall, dass Linksköpfigkeit in NPs dem Deutschen nicht allzu fremd ist (zumal wir ja auch postnominale Attribute wie Genitive, PPs oder Relativsätze haben).

Ich möchte mal einwerfen, dass vor einer Antwort immer die Frage stehen sollte, in welchen Kontexten ein Phänomen auftritt. Mal angenommen, dass es sich wie in den Beispielen von Zeitblom nur um Nachrichten- bzw. Zeitungskontexte handelt, liegt eine ganz andere Erklärung nahe: Es ist in journalistischen Erzeugnissen üblich, dass es über der Schlagzeile noch eine sog. Dachzeile gibt. Diese besteht in der Regel nur aus einem, manchmal aber auch mehreren Schlagwörtern, die den Text für den/die LeserIn grob inhaltlich einordnen sollen. Es handelt sich nur um eine Ansammlung von Schlagwörtern, die nicht miteiander syntaktisch verbunden sind. Entsprechend erklärt sich auch die fehlende Flexion. Diese Praxis ist nicht nur bei Zeitungstexten hilfreich, sondern auch bei anderen presserelevanten Medien wie Bildern. Sollte es sich tatsächlich nur um diese Kontexte handeln, muss man auch keine Schwunderscheinungen und Phobien annehmen.
Noch eine Anmerkung: In Zeitungen ist eine reduzierte Syntax durchaus üblich und auch nichts Neues. Die findet sich bereits in Flugblättern, den Vorläufern der heutigen Zeitung im 16. Jahrhundert. Entsprechend kann man hier eher von einem Stil denn von mangelndem Können und Wissen ausgehen.

Viele Grüße
PeterSilie