Voynich-Manuskript

Hallo,

es scheint nicht viele Beiträge zum Voynich-Manuskript zu geben, oder ich stelle mich nicht gut mit der Suchfunktion an. Im Grunde gehört es ja zum jährlichen Turnus dazu, dass immer wieder Sensationsmeldungen kommen, dass das Mansukript entschlüsselt ist, was es dann bei weiterem Lesen nie ist.

Nun bin ich über einen aktuellen und einen weniger aktuellen Beitrag gestolpert und wundere mich, was es nun damit auf sich hat. (Zudem haben wir dann einen Sammelthread für alles Voynich-relevante.)

In diesem Beitrag von heute wird darüber berichtet, dass es sich bei der Sprache des Manuskripts um Proto-Romanisch handele:
https://phys.org/news/2019-05-bristol-ac...y-old.html

Hier ist der Link zur Studie selbst mit vielen Übersetzungsbeispielen und derlei:
https://www.tandfonline.com/doi/full/10....19.1599566

In einem darunter verlinkten Beitrag wird berichtet, dass es ganz klar Hebräisch sei:
https://phys.org/news/2018-01-ai-uncover...cript.html

Was haltet ihr von der ersten (und zweiten) Meldung? Ist das wieder einer der normalen Meldungen, oder ist das wirklich ein weiterer Schritt?

VG, Kevin

Ein Voynich-Thread – Sehr gute Idee! :)

In den neuesten Beitrag, also die Protoromanisch-These konnte ich mich noch nicht einlesen. Das klingt ja auf den ersten Moment recht vielversprechend, aber angesichts der vielen angeblichen Entschlüsselungsversuche in der Vergangenheit (du hattest das ja bereits angesprochen) ist Skepsis sicher nicht verkehrt. Zumal der Autor ja sehr überzeugt zu sein scheint. Wenn die Ergebnisse reproduzierbar sind oder man sie vielleicht sogar verwenden kann, um das VM automatisiert zu transliterieren, würde das die Plausibilität natürlich deutlich erhöhen :)

Die Hebräisch-Theorie von Kondrak et al. ist mir indes schon untergekommen: Jürgen Hermes, der das Voynich Manuskript in seiner computerlinguistischen Dissertation als Anwendungsbeispiel verwendet hat, in seinem Blog vor einer Weile eine Einschätzung dazu geschrieben https://texperimentales.hypotheses.org/2396

Vielleicht findest du das ja Interessant.

Wir haben das auf einem Discord-Server auch schon diskutiert und sind auch auf diese Seite gestoßen: https://ling.auf.net/lingbuzz/003737

Zitat:Linguistic missing links: This paper explains the writing system for Manuscript MS408 (Voynich), which is written in proto-Romance language and uses proto-Italic alphabet, making it a unique document in both respects. It is therefore very important to linguistics in understanding the evolution of the modern Romance languages and the modern Italic alphabet. The manuscript has been dated to c. 1444 and located to the court of Castello Aragonese, Ischia. The companion paper is: Linguistically Dating and Locating Manuscript MS408. http://ling.auf.net/lingbuzz/003808

Was mich aber vor allem an der ganzen Sache stört und stutzig macht und sehr verwirrt, ist, dass die beiden Aufsätze, also der verlinkte im Originalpost und dieser zusammen auftreten, dann dass der ganze Originalbeitrag öffentlich zugänglich ist (schön für mich, aber ungewöhnlich), er schlecht geschrieben ist, die ganze Aufmachung nicht an wissenschaftliche Präzision erinnert, die ganze Zeit mit den Begriffen Proto-Romance, Vulgar Latin und Proto-Italic rumgeworfen wird, die ganze Kognatensuche und wiedergabe im Originalpaper nicht an eine natürliche Sprache erinnert, sondern an ein Pidgin oder eine konstruierte Sprache, manchmal die Rede von einer Verkehrssprache ist ohne das Pidgin "Sabir" zu nennen, das im Zuge von Vulgärlatein auch sehr verbreitet war, und historisch gar nichts geklärt wird. Wieso sollte im späten Mittelalter plötzlich Proto-Romance gesprochen werden und was genau soll das sein und was soll die Proto-Italic Schrift sein (denn sie ist eindeutig nicht Old Italic) und was mich am stutzigsten macht, ist die Tatsache, dass hier das erste Mal ein "transparenter" (wenn auch schlechter) Versuch gemacht wird, mit konkreten Übersetzungen, einem Transkriptionssystem etc., es aber keine Nachrichtendeckung gibt außer eben obigem Artikel, der auf das obige Paper verlinkt. Für normal schreibt sich die Presse doch oft wund mit Sensationsüberschriften über die Entschlüsselung. Wieso das jetzt nicht der Fall ist, wundert mich umso mehr, weil der Ansatz doch noch weitaus besser verständlich ist für Anfänger, zumal noch öffentlich einsehbar und alles.

Also die einleitende Kritik zur Veröffentlichung kann ich vielleicht etwas relativieren: Lingbuzz ist ja ein Preprint-Server (grob vergleichbar vielleicht mit "ArXiv" in den Naturwissenschaften); da kann man seine Texte deponieren, bevor sich ein Publikationsorgan findet. Soweit ich das überblicke, hatte der Autor den Artikel schon eine Weile "auf Halde" (erste Kommentare dazu finde ich von Ende 2017) und hat ihn ausgewählten Personen zur Ansicht gegeben. "Romance Studies" scheint an sich eine reguläre, peer-reviewte Zeitschrift zu sein, die es bereits seit Anfang der 80er gibt und Taylor & Francis ist auch kein unbekannter Verlag. Dass der Artikel frei zugänglich ist, kann verschiedene Gründe habe. Einige Verlage bieten z.B. an, dass die Autoren dem Verlag Geld bezahlen, damit der Artikel für Open Access freigegeben wird. Manche Unis haben dafür einen Fonds, auf dem das bezahlt werden kann. Insofern finde ich die "Veröffentlichungsmodalität" noch nicht so verdächtig; dass der Artikel durch das Peer-Review gekommen ist, dann schon eher.

Den Kern deiner Kritikpunkte würde ich inzwischen aber auch teilen. :) Hier wurde auch ausgiebig darüber diskutiert: https://ciphermysteries.com/2017/11/10/g...l-polyglot

Ah vielen Dank für die Erhellung! Das war nun auch nicht mein Hauptgrund, aber ich hatte mich zumindest darüber gewundert, aber das rückt es ja schon einmal in ein helleres Licht.

Der Link zu der Diskussion ist goldwert, danke. Es spiegelt genau die Diskussion auf Discord wieder, die wir hatten. :DD

Die Übersetzungen erinnern mich ein wenig an die Versuche, Althochdeutsch als die Ursprache zu propagandieren und zahlreiche Kognaten zwischen Nahuatl und Althochdeutsch zu finden.

Das erste, was ich bei jeder dieser ungefähr im Halbjahrestakt aufkommenden diesmal aber wirklich" Meldungen denke ist: "Oh? Schon wieder?"

Was mich dann stört ist der völlig abstruse Gebrauch der Fachterminologie. Da werden Graphemsequenzen als "Quadraphthongs" bezeichnet, und mit "Proto Italic" eine kursive Schriftform zu bezeichnen ist schon mehr als ungewöhnlich. Wer auch immer das durch die Peer review durchgewunken hat, möge sich bitte schämen und bitte gemeinsam mit dem Autor der Studie einen Grundkurs Schriftforschung besuchen!

Insgesamt ist das zwar oberflächlich betrachtet recht schlüssig argumentiert, aber so lange das nicht fruchtbar auf das gesamte Manuskript angewandt werden kann, und nicht bloß auf Seiten, bei denen die Abbildungen hilfreiche Hinweise geben, welche Wörter oder semantischen Felder vielleicht passen könnten, bin ich nicht überzeugt. Wenn ich etwas sehe, das sich als eine bestimmte Pflanze, ein Werkzeug, oder ein Sternzeichen identifizieren lässt, kann ich in der (Proto-)Romanischen Dialektkiste so lange nach Wörtern tauchen, bis ich etwas habe, das man mit möglichst wenigen Ausnahmen und Rechtfertigungen auf die vorfindliche Schrift abbilden kann. Ein Beweis wäre es für mich erst, wenn auch dunkle Passagen oder Bildunterschriften der bislang unerklärlichen Abbildungen entziffer- und übersetzbar werden.

Siehe auch 

• https://blog.linguisten.de/post/184915956640
  
• https://blog.linguisten.de/post/184923526295/
  
• https://injerabae.tumblr.com/post/184924...looked-the
  

Einen bemerkenswert erfrischenden Verriss bringt das ansonsten ja eher auf seine Sinophilie beschränkte LanguageLog: https://languagelog.ldc.upenn.edu/nll/?p=42749  — im Artikel auch Links auf weitere Kritik, die teilweise schon 2 Jahre zurück geht — Zeit, in der der Autor sicherlich hätte dazu lernen können: https://ciphermysteries.com/2017/11/10/g...l-polyglot

(15.05.2019, 18:31:43)Kevin schrieb: Was mich aber vor allem an der ganzen Sache stört und stutzig macht und sehr verwirrt, ist, dass die beiden Aufsätze, also der verlinkte im Originalpost und dieser zusammen auftreten, dann dass der ganze Originalbeitrag öffentlich zugänglich ist (schön für mich, aber ungewöhnlich)

Das kann entweder vom Autor oder seiner Uni so bezahlt worden sein, oder Taylor & Francis versprechen sich von dem offen voll verfügbaren Text einen Werbeeffekt. So etwas zieht ja Traffic an und treibt mitunter Rankings und Zitierwerte hoch. Honi soit qui mal y pense. 

André Müller hat auch einen Kommentar auf Quora geschrieben: https://www.quora.com/Is-Gerald-Cheshire...W6VUqfQFrA

Ah, unser @Vortarulo. Meine Lieblingspassage seines Beitrags:

Zitat:This looks more like a mixture of Elvish and Marshallese than like Proto-Romance, if you ask me.

Aber dafür fängt die Presse jetzt an... Ohauhauha:
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mens...67694.html
https://www.welt.de/wissenschaft/article...haben.html
https://www.theguardian.com/science/2019...manuscript

Ich frage mich ernsthaft, wie das Ding jemals durch die Peer Review gekommen ist. Das kann ich mir nur so erklären, dass da jemand das mit dem "Peer" zu wörtlich genommen hat und das Manuskript zur Begutachtung nicht einem/r Romanisten/in sondern einem/r genauso ahnungslosen Biologen/in vorgelegt hat. Herr Cheshire ist nämlich Biologe und insofern natürlich auf das Vortrefflichste qualifiziert, innerhalb weniger Tage ein philologisches Problem zu knacken, das Fachleute in über einem Jahrhundert nicht zu knacken vermochten.

---

P.S.: Noch eine Kritik https://arstechnica.com/science/2019/05/...anuscript/

Nicht nur in Oxford und Cambridge wird gerudert. Bristol zeigt, in welch atemberaubenden Tempo man auch wieder zurückrudern kann:
http://bristol.ac.uk/news/2019/may/voyni...cript.html    (Der Server bricht zeitweise zusammen unter der Last der Anfragen; so haben die sich das mit der Publicity sicher nicht vorgestellt!)
Bedauerlich daran ist nur, dass man sich seitens der Uni nicht zu schade war, sich als Heimat des selbstüberschätzenden "Genies" zu profilieren, so lange man seinem Bullshit noch glaubte. Jetzt, da sein Hirnfurz als solcher entlarvt wurde, versucht die Uni, sich ganz fadenscheinig herauszureden, sowohl was seinen Status bzw. seine Affiliation angeht als auch hinsichtlich des Status seiner Voynich-"Forschungen" als reine Privatangelegenheit.

Und nach wie vor bin ich natürlich gespannt, die Zeitschrift "Romance Studies" reagieren wird. Immerhin hat ihnen der Hype bald 100.000 Klicks auf den Artikel beschert, das ist beinahe das Sechzigfache ihres bislang meistgeklickten Artikels [link]. Wenn nur nicht der Ruf darunter leiden würde...

(16.05.2019, 22:11:07)janwo schrieb: Herr Cheshire ist nämlich Biologe und insofern natürlich auf das Vortrefflichste qualifiziert, innerhalb weniger Tage ein philologisches Problem zu knacken, das Fachleute in über einem Jahrhundert nicht zu knacken vermochten.

Mir ist es ja eigentlich egal, welche Qualifikation die Person hat. Sie sollte halt die bisherigen Teilergebnisse nicht ignorieren und wissenschaftlich sauber arbeiten (im vorliegenden Fall beides nicht geschehen). Wenn das gegeben ist, darf sie von mir aus auch Biologe sein ;) Denn -- das muss man ja fairer Weise denke ich sagen -- haben es die Philologen, wie du schon sagtest, bisher auch nicht zustande, das Ding zu entziffern. Insofern kann jemand mit einer anders gelagerten "Déformation professionnelle" da vielleicht neuen Wind reinbringen; es sollte sich nur eben stimmig in das bisherige fügen. Zudem besteht auch die Möglichkeit, dass der bisherige Diskurs, der unter den "Voynichologen" geführt wird, auch in einer Sackgasse stecken geblieben sein kann.

Ein Beispiel, wie man es m.M.n. besser machen kann, ist z.B. die oben schon genannte Doktorarbeit von Hermes (2010; https://kups.ub.uni-koeln.de/4561/). Er verfolgt im Prinzip den Ansatz, eine Textgenerierungsmethode zu finden, die einen Text erzeugen kann, der ähnliche statistische Eigenschaften wie das Voynich-Manuskript aufweist. Die Arbeit ist meiner Meinung nach auch deswegen interessant, weil er erstens zeigt, wie man als Computerlinguist an so etwas herangehen kann, und zweitens einen guten (und gut lesbaren) Überblick über den Stand der Forschung gibt (anders als Cheshire trägt er seine Überlegungen zudem recht bescheiden vor. Das Resultat war, soweit ich mich entsinne, dass es ein historisches Verschlüsselungsverfahren gibt, dass prinzipiell ähnliche Texte erzeugen kann. Es braucht aber ein "Schlüsselbuch", das bisher nicht gefunden wurde und vmtl. nie gefunden wird.)

(18.05.2019, 17:47:09)thf schrieb: Mir ist es ja eigentlich egal, welche Qualifikation die Person hat. Sie sollte halt die bisherigen Teilergebnisse nicht ignorieren und wissenschaftlich sauber arbeiten (im vorliegenden Fall beides nicht geschehen). Wenn das gegeben ist, darf sie von mir aus auch Biologe sein ;)

Ich habe nicht prinzipiell etwas gegen Amateure. Einer der großartigsten Austronesisten die ich kenne ist promovierter Chemiker und macht die wirklich spektakulären Entdeckungen eben in der Austronesistik, aber das hat eben auch Hand und Fuß und baisert auf einer sinnvollen Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Linguistik und der Austronesischen Sprachen und dem, was andere vor ihm schon getan haben.

Als einer, der zufällig über das Manuskript "stoplert", vorher nie etwas mit Philologie zu tun hatte, ist es aber schon reichlich suspekt, wenn er durch

phys.org schrieb:lateral thinking and ingenuity

binnen weniger Tage den Wissens- und Erfahrungsstand anderer nicht nur ein- sondern auch überholt, alldieweil er nicht einmal die grundlegendsten Fachbegriffe kennt bzw. richtig zu verwenden weiß. Und vielleicht hätte er auf fedback hören sollen, als er es bekam, und sich nicht für das herausragendste Genie der Entszifferung halten sollen. Ein klassischer XKCD hierzu:

[Bild: https://imgs.xkcd.com/comics/here_to_help.png]
XKCD 1831: Here to help

(18.05.2019, 17:47:09)thf schrieb: Denn -- das muss man ja fairer Weise denke ich sagen -- haben es die Philologen, wie du schon sagtest, bisher auch nicht zustande, das Ding zu entziffern. Insofern kann jemand mit einer anders gelagerten "Déformation professionnelle" da vielleicht neuen Wind reinbringen; es sollte sich nur eben stimmig in das bisherige fügen. Zudem besteht auch die Möglichkeit, dass der bisherige Diskurs, der unter den "Voynichologen" geführt wird, auch in einer Sackgasse stecken geblieben sein kann.

Ja, das setzt aber einen Dialog voraus, der nicht auf eine Haltung wie "ich weiß alles besser, ihr seid ja alle unfähig" beschränkt ist. Herr Cheshir schint ja schlichtweg in Höchstgeschwindigkeit gegen die Endmauern diverser bereits hinlänglich bekannter Sackgassen gelaufen zu sein. Das einzig Innnovative an seinem Ansatz ist der eigentümliche Terminologiegebrauch und die Geschwindigkeit, mit der er die Sackgassen durcheilte.


Phys.org haben ihren ziemlich reißerischen Artikel inzwischen übrigens schlichtweg vom Netz genommen Nicht einmal eine offizielle Zurücknahme. Nur "Fehler 404".

Weitestgehende Zustimmung. :)

Ich habe mal zum Spaß versucht, die vorgeschlagenen Transliterationen automatisiert zu vollführen. Hier ein Ausschnitt:

(die Daten stammen von hier: http://www.voynich.nu/transcr.html ; Datei LSI, Transkription von Takeshi Takahashi)

( ø und / sind Zeichen, die ich nicht richtig auflösen konnte).

Ich fürchte, das eignet sich nicht mal als Lorem Ipsum ;) Aber immerhin kann es weitestgehend aussprechen. Hier sieht man auch noch mal schön die ganzen Semi-Repetitionen, die eher wie ein Unsinnsgedicht mit Schlagreimen wirken.