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[Sem] Semantik, Etymologie, Semiotik: 
Erledigt: 01.07.2018, 18:21:10 Lutherischer Relativsatz mit "die da"
#1
Erledigt: 01.07.2018, 18:21:10
 
Hallo Leute!

Da denkt man, Luther wurde linguistisch bereits genug erforscht, aber leider hat meine Recherche zu diesem Thema nichts ausgespuckt. Also meine Frage: Wie nennt man das "da", mit dem Luther in seinen Seligpreisungen immer einen Relativsatz einleitet und was soll es bewirken?
Beispiele:
Selig sind / die da geistlich arm sind / Denn das Himelreich ist jr.
Selig sind / die da leide tragen / Denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die da hungert vnd dürstet nach der Gerechtigkeit / Denn sie sollen sat werden.

Dann gibt es auch wieder Sätze, die ohne dieses "da" auskommen:
Selig sind die Senfftmütigen / Denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind die Barmhertzigen / Denn sie werden barmhertzigkeit erlangen.

Ich bin ratlos. Ich würde diese Konstruktion gerne in meiner Arbeit linguistisch erklären, mir fehlen dazu aber einfach die Worte.

Vielen Dank schon mal!
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#2
 
Hallo versus,

ich kenne mich jetzt in älteren Sprachstufen nicht so aus, aber die Konstruktion "die da" hört sich auf den ersten Blick so an, dass da hier als eine Fokuspartikel funktioniert: gibt es auch im heutigen Gebrauch genauso mit Nomen (der Mann da / der eine da / das Buch da).
Im Vergleich zu deinen Beispielen ohne "da" sieht man, dass "die" nicht mehr als Relativpronomen gebraucht wird, sondern als Artikel -> Könnte man auch als Indiz für eine Fokussierung auslegen.
Natürlich fehlen mir hier weitere Daten/Kontexte um es belegen zu können, vielleicht schaust du in dieser Richtung weiter, ob es da Fachliteratur zu gibt.

Schöne Grüße
Anna
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#3
 
Hallo versus,

eine eigene Bezeichnung für dieses spezielle da kenne ich auch nicht, aber ergänzend zu dem, was Anna K. bereits gesagt hat, sieht es mir nach dem da aus, das bei Grimm unter der Grundbedeutung 4a. (=ohne weitere bedeutung, nur als verstärkung) aufführt:

Zitat: gott des herren spotten, der da der aller gröszt ist 44a. eines solchen guten frummen menschen, der da gott gern dienen wolt
Zitat:das heiszt unordenliche begird, die da nit ist nach ordenung der vernunft

Vielleicht findest du auch in die Richtung etwas.
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#4
 
Die Überlegung Fokus- und Abtönungspartikel scheint mir ergiebig. Hier eine weiterführende Skizze.

Zitat:Beispiele:
(a) Selig sind / die da geistlich arm sind / Denn das Himelreich ist jr.
(b) Selig sind / die da leide tragen / Denn sie sollen getröstet werden.
(c) Selig sind die da hungert vnd dürstet nach der Gerechtigkeit / Denn sie sollen sat werden.


Im Lutherdeutsch der obigen "Relativsätze" findet sich in (c) der Verzicht auf die Endstellung des finiten Verbes - "Selig sind die da hungert vnd dürstet nach der Gerechtigkeit". - Das ist als Ausklammerung interpretierbar und/oder als demonstrative Wendung "die (es) da hungert und dürstet" nach der Gerechtigkeit (ausgeklammert) , ähnlich wie im Vaterunser ("... der du bist im Himmel").

Dem zugrunde liegend wahrscheinlich ein demonstrativer Gebrauch des "Relativ-"Pronomens, eine frühe Verwendungsweise. Daher vielleicht in der Lutherbibel und der Bergpredigt fast so etwas wie ein predigthafter "Fingerzeig" des Redners Jesus auf den speziellen/Umkreis, den aktuellen (imaginierten oder "realen") Referenzraum und seine Träger. Und von Luther auch rhetorisch-deiktisch gesehen und so formuliert, dass sich der Adressatenkreis der Jesusworte "automatisch" auf alle Hörer dieser Worte erweitert. Weiter unten näheres unter dem Stichwort "Universalisierung".

Damit überlappend, weil auch deiktisch-demonstrativ das fragliche "da": Im neuhochdeutschen Lexikon ist das "da" temporal oder lokal situiert und somit deiktisch disponiert (kann sich aber semantisch abtönen: "wer kann denn da was anderes sagen"). In der Kombination mit dem demonstrativen "die", also im "die da", eine sich wechselseitig in den Elementen stützende rhetorische Vergegenwärtigungsstrategie.

Aside

Beobachtbar sind Übergängen von "lokal" und "temporal" in eine kausale Semantik, man vergleiche:

Zitat:Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
( Luther, Korinther-Brief 5.7)

Zitat:Da ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus, wo ein,
Kehrt' ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Ein Ohr zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
(Prometheus, Goethe)


Zusätzlich - neben der Vergegenwärtigung - auch eine Verallgemeinerungstrategie:
Selig sind die da hungert vnd dürstet nach der Gerechtigkeit / Denn sie sollen sat werden.
Selig ist, wer auch immer da ...dürstet nach der Gerechtigkeit/wen (es) auch immer dürstet nach der Gerechtigkeit ...


In den Restsätzen (a) und (b) liegt Endstellung des finiten Verbs vor. Damit funktioniert das pronominale "die" wohl nur noch schwach "demonstrativ". Allerdings: Das dort auftauchende jeweilige "da" wurde wohl durchaus demonstrativ rezipiert. So ist dieses "da" dann - weitgehend allein - für die deiktische Avisierung des Referenzraumes zuständig. So jedenfalls lässt der Verbund der drei Sätze vermuten.

Die genannten deiktischen Partikel und Pronomen in den Bergpredigtsätzen sind im konfessionellen Resonanzraum der Lutherzeit und heute wohl recht gut als ein Verweis auf die nahe und ferne Menge der Adressierten zu interpretieren. Sie leisten eine interessante Universalisierung, vom Hier und Jetzt der Jesuspredigt rhetorisch ausgreifend auf eine gedachte, imaginierte Gesamtmenge der Bedrängten, Leidenden ...., die da in der Jetztzeit und jene zu allen Zeiten.

Ein (bisschen) fündig zur Lutherwendung "die da" wird man übrigens bei Robert Peter Ebert (Deutsche Syntax, 1300-1750, 1986) und Volha Naumovich (Die deiktischen Ausdrücke hier, da, dort und ihre russischen Entsprechungen ..., 2014)
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#5
 
Wow, Leute ich bin überwältigt von euren detaillierten Ausführungen! Vielen Dank an dieser Stelle.
Fokuspartikel wäre tatsächlich auch nach meiner Ansicht das, was dem am Nächsten kommen könnte, bloß hat mich das auf Wikipedia aufgeführt Beispiel abgeschreckt :P
Ich habe mir dann das Wort "Präpositionalpartikel" ausgedacht, war damit aber dann doch nicht allzu sehr zufrieden.
Danke für die weiterführende Literatur! Auf die werde ich mich gleich mal stürzen.

@Willi Wamser Weil du es gerade aufgeführt hast und ich auch danach nach einem korrekten grammatikalischen Begriff gesucht hast, frag ich noch einmal genauer nach: Diese archaische Wortstellung im Satz nennt sich also Ausklammerung, habe ich das so richtig verstanden?
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#6
 
Servus, Versus!

Nuja, morgen vielleicht Genaueres.

"Beati sunt, qui esuriunt,,,"
Selig sind (die), die (Akkusativ) (es) da dürstet...

Mir scheint, das "da" ist ein interessantes Ortsadverb, kein Präpositionsadverb (wie deswegen, dahin, hinüber), dadurch).

Das Ortsadverb "da" und das zugehörige Pronomen "die" zeigt in einem Sprecherbereich (hier der Sprecher der Bergpredigt) einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum von Sprecher und Hörer. Der gemeinte Raumbereich ist vom Hörer direkt nachzuvollziehen, sozusagen "synchron und synlokal". Zusätzlich läuft noch eine Art von Universalierung (auch) über eine Verallgemeinerung:
Selig ist, wer auch immer und wo (da) auch immer nach Gerechtigkeit dürstet.

Ausklammerung meint vor allem eine Besonderheit wie;

Du bist heute hier eingelaufen mit großer Verspätung.
Normaler, keine Ausklammerung:
Du bist heute hier mit großer Verspätung eingelaufen.
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#7
 
Servus, Versus!

(0) Selig sind, die da hungert nach Gerechtigkeit (und nach einer Untersuchung von "die da")

In den folgenden fünf Abschnitten geht es um Ausdrücke wie "die da, was da", ihre Funktion und Bedeutung soll untersucht werden. Speziell geht es um Luthers Übersetzung einer Bergpredigtpassage ins Deutsche.
Hier zunächst die einschlägige Stelle als Vulgatatext (a) , dann eine konventionelle Übersetzung(b) , dann Luthers Version (c) des lateinischen Textes.

Luther predigt auf Kanzel
http://tinyurl.com/zvkpsl6

(a)
Beati pauperes spiritu,
quoniam ipsorum est regnum caelorum;
beati mites, quoniam ipsi possidebunt terram;
beati qui lugent, quoniam ipsi consolabuntur;
beati qui esuriunt et sitiunt iustitiam
quoniam ipsi saturabuntur.

(b)
Selig sind die Armen im Geiste,
denn ihrer ist das Reich der Himmel!
Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen!
Selig sind, die trauern, denn sie werden getröstet werden. Selig sind,
die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit,
denn sie werden gesättigt werden.

Matthaeus 5 Biblia Sacra Vulgata (VULGATE)

(c)
(a) Selig sind / die da geistlich arm sind / Denn das Himelreich ist jr.
(b) Selig sind / die da leide tragen / Denn sie sollen getröstet werden.
(c) Selig sind die da hungert vnd dürstet nach der Gerechtigkeit / Denn sie sollen sat werden.

Luther-Bibel
http://preview.tinyurl.com/zsw49qx

Bergpredigt Jesu, Bild Sixtinische Kapelle
http://tinyurl.com/zwr4qnj

Sammlung: "die-da-Verknüpfungen" in Luthers Bibelübersetzung

http://tinyurl.com/gm3nl7p

1. Partikel und Partikeltyp

Ein Wort wie "da" ist weder deklinierbar noch konjugierbar, also kein Nomen, sondern eine Partikel. Verwendet man „Partikel“ konventionell als Oberbegriff für die nichtflektierbaren Wortarten, so gilt:
Eine Klassifizierung von“da“ könnte die Partikel-Menge Präposition, Konjunktion (koordinierende, subordinierende), Adverb, Interjektion und noch einiges heranziehen

Nun, unser "da" regiert keinen Kasus, im Gegensatz zu Präpositionen wie z.B. nach dem Essen, hinter dem Berg (zweimal ein Dativ). „Da“ ist also keine Präposition. Auch wenn es eine lokale Orientierung bietet, wie es viele Präpositionen tun.

„Da“ verbindet normalerweise keine Satzteile oder Teilsätze, ist also keine Konjunktion oder Subjunktion (Aber Vorsicht: "Da ich ein Kind war...", „Da ich groß bin, stoße ich an die Decke").

Es lässt sich nicht steigern/komparieren. Nur wenige Adverbien haben komparativähnliche Formen: bald … eher, gern …lieber … am liebsten.

Also ist alles in allem unser "da" am ehesten ein Adverb.

2. Der Blick ins Lexikon "dwds": Grundbedeutung und Stilebene der Verbindung "Relativpronomen + da"

dwds-Auskunft: Ein Adverb, und - in der Grundfunktion - den näheren Bereich des Sprechers bezeichnend, auch eine besondere Verwendung aufweisend: "da", lokal - eher archaisch-altertümelnd in der Stilebene - in der Kombination mit speziellen Pronomen.

altertümelnd nach Rel. pron. und gewissen Indef.pron.
was da kreucht und fleucht
Meister Martin Opitz ... der da schreibt – Weiskopf Verteidigung 8,450

biblisch
wer da hat, dem wird gegeben

http://www.dwds.de/?qu=da

3. Abtönungspartikel und Fokussierungspartikel

Versuchen wir ins Detail der Partikel-Semantik zu leuchten, auch über den vorliegenden Fall hinaus.

Wo gehst du denn hin? Da liegt doch das Buch.

Das „denn“ wird hier nicht unmittelbar kausal eingesetzt. Es zielt vielmehr darauf ab, dass der Gesprächspartner etwas plausibel macht und es begründet, die Konnotation eines Vorwurfes liegt nahe. Das „da“ signalisiert, dass das Gesuchte im Nahbereich liegt, so dass das Gehen eher unsinnig erscheint.

Das „denn“ wird als Abtönungspartikel bezeichnet. Es ähnelt etwa in seiner Verwendungsweise dem „bloß“ in „Was tust du denn bloß?“.

Das „da“ kann als Fokussierungspartikel gelten, "da" wird in der mündlichen Rede wohl betont, hat seine volle Funktion, wenn es hinweist auf einen speziellen, in der Situation relevanten Raumbereich. Dieser ist für Sprecher und Hörer zugänglich und eben der "richtige". Natürlich kann es sich auch einfach auf eine "vorliegende" Textstelle beziehen. "Da" liegt doch ein finites Verb im Luthers Satz vor, eines am Ende des Relativsatzes.
Auf jeden Fall eine deiktische Funktion, ausgeprägt.

Anders das folgende „da“:
Wer hat da was gesagt? Das "da" ist semantisch blasser geworden und hat weitgehend seine Raumorierungsfähigkeit verloren. Eine Abtönungspartikel.

4. Relativpronomen und Demonstrativpronomen, Deixis

Man vergleiche die beiden folgenden Zeilen und deren Sätze.
(a) Was sind denn das für Blödmänner. Die stehen da rum. Die helfen den Flüchtlingen nicht.
(b) Was sind denn das für Blödmänner, die da rumstehen, die den Flüchtlingen nicht helfen.

In (a) und (b) findet sich "die" in leicht unterschiedlichen Strukturen. In (a) steht das finite Verb in Zweitstellung:
Die stehen da rum. Die helfen nicht In (b) findet sich das finite Verb in Endstellung:
die da rumstehen, die nicht helfen.

In (a) wird traditionellerweise das Lexem "die" als Demonstrativpronomen bezeichnet, Artikel ist wohl weniger passend. In (b) als Relativpronomen. Der Unterschied ist wohl vor allem syntaktischer Natur. Das Demonstrativum ist nicht subordinierend, versetzt das finite Verb nicht in Endstellung. Aktiviert ist die Zeigehandlung, oft durchaus die Körper- und Zeigefingersprache des Redners. Kurz die Deixis.

Auch eine gewisse semantische Verblassung ist in (b) feststellbar. Das "die" ist im Zeigegestus (der Deixis) des Sprechers weniger integriert als in (a) und daher offener. Dass kein Artikel vorliegt, lässt sich etwa grammatikalisch an einem Dativbeispiel festmachen:

Die stehen da rum. Denen (nicht: den) sollte man die Hammelbeine langziehen.

Offensichtlich wählt man hier einen besonderen Dativ.

5. Die Lutherwendung

5.1 Basics

(c) Selig sind die da hungert vnd dürstet nach der Gerechtigkeit / Denn sie sollen sat werden

In heutigem Deutsch, das den Luthertouch vorsichtig modernisieren möchte, könnte der Satz wohl so lauten:
(c) Selig sind die, die es (da) nach der Gerechtigkeit hungert und dürstet.

Die finiten Verben "hungert", "dürstet" stehen in Endstellung. Das erste „die“ wirkt als Demonstrativpronomen („sind diese“), das zweite „die“ wirkt als Relativpronomen. Es nimmt eine vorausliegende Information auf und setzt sie als Platzhalter im neuen Satz, einem Relativsatz.

Daraus lässt sich der vorsichtige Schluss ziehen. Im Lutherdeutsch von (c) mit seinem Verzicht auf die Endstellung des finiten Verbs und seinem Verzicht auf ein „die.., die/welche“ und einer Alleinstellung des „die“ ist der konventionelle Relativsatz und seine Struktur eher abgewählt, eine demonstrative Struktur hat den Vorrang.
Gleichzeitig liegt ein gewisser Sinnakzent auf dem nachklappenden "Gerechtigkeit".

Das „die“ ist ein Akkusativ, abhängig von der Wendung „(es) dürstet jemanden“, das „es“ ist elliptisch/ausgespart. Das Präpositionalobjekt „nach Gerechtigkeit“ ist an das Satzende gerückt, es ist ausgeklammert – egal, ob man hier einen Relativsatz oder einen Aussagesatz annehmen würde.

Luthers lateinische Vulgata-Vorlage setzt ein Relativpronomen („qui“). "Qui" lässt sich aber mit einigem guten Willen als „relativer Satzanschluss“ interpretieren und kann dann demonstrativ übersetzt werden, „selig sind sie…. Die(se) dürsten nach der Gerechtigkeit …. denn sie werden gesättigt werden“.

Man erkennt, die Luther-Partikel „da“ wird interessant, sie ist offensichtlich für die Übersetzung nicht unbedingt notwendig. Mögliche additive Effekte? Befragen wir die Semantik des „da“:

5.2 Die Deixis von "da"

In einer Rede geht es darum, seine Adressaten unmittelbar anzusprechen, Lokaladverbien wie „hier“ und „da“ bezeichnen Elemente und Bereiche in einem Orientierungssystem und einem Orientierungsraum, das Sprecher und Hörer gemeinsam überblicken. Insofern wird hier eine Menge von Adressaten im Nahbereich angesprochen. Diese ist ausgezeichnet durch einen besonderen Wunsch, dem nach moralischen Werten, dem nach Gerechtigkeit. Es dürfte nun jeder Adressat diesen Wunsch verspüren, heftiger oder weniger heftig.

Die beiden Verben „hungern“ und „dürsten“ arbeiten metaphorisch mit einem Quellbereich absolut heftigen Mangels und dessen Überwindung: Essen und Trinken, feste und flüssige Nahrung sind überlebenswichtig. Gerechtigkeit ist ein unbedingt wichtiges Bedürfnis. Das Bedürfnis ist über das verdeckte "es" - auch wenn man vielleicht ein expletives "es" ansetzen könnte - doch als ein fast eigenständiges Bedürfnis, als ein Überlebenstrieb in der biologisch-mentalen Ausstattung des Menschen anskizziert. Das nachklappende "nach Gerechtigkeit" mag eine Nebensache meinen, mindestens genauso plausibel: Die Ausklammerung markiert ausdrücklich ein Grundbedürfnis aller Menschen.

Mit den beiden Verben und ihrem Wortfeld kommt also ein universales Bedürfnis des Menschen ins rhetorische Kommunikationsspiel: Hunger und Durst kennen alle Menschen. Speise und Trank ist allen Menschen ein notwendiges Überlebensmittel. Gerechtigkeitswünsche verbinden alle Menschen miteinander, „Fairness“ wird von allen Menschen eingefordert, aktiv und passiv, egal, ob sie geleistet wird oder nicht.

Mit dieser Universalisierung ist aber eben nicht nur der unmittelbare Adressatenkreis der Jesuspredigt erfasst. Vielmehr geht es – in der medialen Verbreitung der Lutherschrift – um eine Botschaft an das Bewusstsein aller Leser. So lässt sich das „die da hungert“ lesen als ein „wo immer es die Menschen hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“. Ferne Zeiten und Räume sind damit dem Nahhorizont der Jesusrede angelagert.

5.3 Sozial-Revolutionäres

Übrigens hat die Raumdimension noch einen anderen interessanten Aspekt: In der Bergpredigt werden zwei lokale Bereiche neben dem Bereich avisiert, an dem man die Hörerschaft sich denken kann: Das „regnum caelorum“, traditonell „das Himmelreich“. Und die „terra“, traditionell das „mundane“/weltliche „Land“.

So gesehen kann das „da“ eben auch auf den unmittelbaren Nahhorizont des Berges und seiner dort sitzenden Hörer bezogen werden, aber auch darüber hinaus auf das weit gefächerte Diesseits der „Terra“ und auf das „Jenseits“ der „caelorum“. Eine „Nahverkündung“ also, die eine konkrete Glücksvorstellung im Diesseits gelagert verspricht, eine eher theologisch-futurische Glücksvorstellung, die auf ein Leben nach dem Tode hinweisen könnte. Aber auch eine Glücksvorstellung, welche ein glückliches Diesseits als vom Himmel und dem himmlischen Vater gewollt installiert.

https://de.wikipedia.org/wiki/Seligpreis...n_Mt_5.2C3

Gut möglich, dass hier ein rhetorischer Schub seine Wirkung gewinnt, egal ob von Luther gewollt oder nicht: Gerechtigkeit ist ein im theonomen Horizont und im von Gott geschaffenen Menschen eingepflanztes Prinzip. Wer sich darauf beruft, kann die Besitzverhältnisse von Kirche und Adel der Lutherzeit auf- und angreifen. John Balls rhetorischer Fragesatz mit einem interessanten "denn da" machte im Bauernkrieg nach einigen Umwegen wohl durchaus Furore:

„Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“

[Bild: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/c...ebel-1.jpg]

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#8
 
Wow, ich muss das erst alles intellektuell verdauen. Ich danke dir jedenfalls wahnsinnig für deine (mehr als eine Antwort). Die Linguistischen Erkenntnisse die man daraus ziehen kann sind enorm. Ich hoffe, dass andere Leute, die die selbe Frage umtreibt wie mich auf deinen Beitrag stoßen. Hut ab!
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