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Erledigt: 23.02.2020, 03:09:04 (Wann) soll die Sprachwissenschaft eingreifen?
#1
Erledigt: 23.02.2020, 03:09:04
 
Aus professioneller Perspektive eines Linguisten denke ich, dass sprachplanerische Eingriffe in Sprache abzulehnen sind. Das ist meine ganz persönliche Meinung, die sich daraus ergibt, dass Linguistik in erster Linie deskriptiv und nicht normativ arbeitet. Die Linguistik stellt fest, was ist, und setzt nicht fest, was sein sollte. Das gilt unabhängig von der dahinter stehenden Intention. Linguistik als Fach ist zwar ethischen Massstäben verpflichtet, doch keiner Moral im weiteren Sinne unterworfen. Welche sollte das auch sein?

Damit mich niemand falsch versteht: Ich lehne eine Benachteiligung jedweder gesellschaftlicher Gruppen ab!

Es ist aber nicht die Aufgabe der Linguistik, Sprache dahingehend zu verändern, dass sich weniger Menschen durch ihren Gebrauch diskriminiert fühlen. Wie ähnliche Eingriffe in der Gesellschaft aufgenommen werden, kann man aktuell am Versuch des Framings bei der ARD beobachten. Zudem würde man anderen akademischen Fächern einen gleichgearteten Auftrag auch nicht geben: Niemand würde auf die Idee kommen, dass das Fach Jura Gesetze erlassen oder abändern sollte. Niemand würde von Politikwissenschaftlern verlangen, dass sie eine bestimmte Politik vertreten oder betreiben. Und einem Literaturwissenschaftler würde man auch nicht dazu ermuntern, sich für andere Literatur einzusetzen.

Insgesamt sind sprachplanerische Ideen immer Moden unterworfen. Das muss nichts Schlimmes sein. Im Gegenteil! Genau diese Moden können ja längst etablierte Missstände aufdecken. Dennoch ändern sich Moden und ich glaube nicht, dass Sprache jede Mode mitmachen kann.

Wenn sich Sprache also ändern soll, dann wird vermutlich der gleiche Weg zu beschreiten sein, über den Sprachwandel schon seit jeher stattgefunden hat: über die Sprecher!

Viele Grüße
PeterSilie
Administrator schrieb 18.02.2019, 19:57:01:
Ausgegliedert aus: https://www.linguisten.de/Thread-Leicht-...le-Sprache
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#2
 
Das geht vielleicht ein bisschen weg von der Genus-Diskussion (und ist vielleicht etwas wirr, sorry! ;)), aber den Aspekt, ob die Sprachwissenschaft hier überhaupt tätig werden sollte, finde ich sehr interessant. (Da lohnt sich vielleicht fast ein eigener Thread) Ich glaube, das ist eine Grundfrage, die die Sprachwissenschaft für sich klären muss im Moment. Das Dogma "Leave your language alone" scheint mir in den letzten Jahren zumindest stark in Zweifel gezogen zu werden, gerade wenn es ums Gendern geht.

Ein Argument für eine Einmischung scheint mir doch bedenkenswert. In Bezug auf das ARD-Framing (danke für den Hinweis!) erwecken viele Beiträge für mich den Eindruck, man könnte nicht framen. Das ist meines Wissens nicht der Fall. Hier wäre ein Punkt, wo die Sprachwissenschaft einschreiten und korrigieren könnte. (Andererseits ist das natürlich eine Diskussion, die aus der Wissenschaft selbst kommt und ihr möglicherweise mittlerweile entgleitet.)


Zitat:Zudem würde man anderen akademischen Fächern einen gleichgearteten Auftrag auch nicht geben: Niemand würde auf die Idee kommen, dass das Fach Jura Gesetze erlassen oder abändern sollte. Niemand würde von Politikwissenschaftlern verlangen, dass sie eine bestimmte Politik vertreten oder betreiben. Und einem Literaturwissenschaftler würde man auch nicht dazu ermuntern, sich für andere Literatur einzusetzen.

Es mag nicht ihr expliziter Auftrag sein, es sitzen aber ja doch im Bundestag eine ganze Menge Juristen, die Gesetze machen. Und auch Literaturwissenschaftler werben oft für bestimmte Autoren bei Vorträgen ("X ist eine tolle Autorin!"). Viele Naturwissenschaftler setzen sich gegen den Klimawandel ein, ganz zu schweigen von den Wirtschaftswissenschaftlern, die mit Gutachten etc. stark in politische Prozesse eingreifen. In Anlehnung an die kritische Diskursanalyse könnte man fragen, ob es dann nicht besser wäre, wenn man einen solchen Auftrag annimmt, das aber explizit macht (was bei der ARD scheinbar versäumt wurde). Und ob es sowas wie Neutralität überhaupt gibt.

Das große Problem ist mMn, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in solchen medialen Diskursen fast notwendig verformt und verfälscht oder überhaupt nicht wahrgenommen werden (siehe Kiezdeutsch, Sprachverfall, neue Medien und Schreiben etc.). Gerade bei den aktuelleren Aufsätzen zum Gendern merkt man, dass die der 'Öffentlichkeit' vermutlich schwer zu vermitteln sind und immer wieder Argumente genannt (!) werden wie 'Genus und Geschlecht sind (nicht) das gleiche' oder 'Studien zeigen, dass wir Männer im Kopf haben, wenn wir Arzt hören', seltener aber genau solche Studien und Erkenntnisse tiefer diskutiert werden.
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#3
 
(18.02.2019, 17:37:00)reger schrieb:
Zitat:Zudem würde man anderen akademischen Fächern einen gleichgearteten Auftrag auch nicht geben: Niemand würde auf die Idee kommen, dass das Fach Jura Gesetze erlassen oder abändern sollte. Niemand würde von Politikwissenschaftlern verlangen, dass sie eine bestimmte Politik vertreten oder betreiben. Und einem Literaturwissenschaftler würde man auch nicht dazu ermuntern, sich für andere Literatur einzusetzen.

Es mag nicht ihr expliziter Auftrag sein, es sitzen aber ja doch im Bundestag eine ganze Menge Juristen, die Gesetze machen. Und auch Literaturwissenschaftler werben oft für bestimmte Autoren bei Vorträgen ("X ist eine tolle Autorin!"). Viele Naturwissenschaftler setzen sich gegen den Klimawandel ein, ganz zu schweigen von den Wirtschaftswissenschaftlern, die mit Gutachten etc. stark in politische Prozesse eingreifen. In Anlehnung an die kritische Diskursanalyse könnte man fragen, ob es dann nicht besser wäre, wenn man einen solchen Auftrag annimmt, das aber explizit macht (was bei der ARD scheinbar versäumt wurde). Und ob es sowas wie Neutralität überhaupt gibt.

Natürlich sitzen Juristen im Bundestag. Doch sitzen sie dort nicht in ihrer Funktion als Wissenschaftler. An einem Lehrstuhl für Jura können Expertisen ausgearbeitet werden, die dann bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden. Aber eine Lehrperson in Funktion eines Wissenschaftlers kann keine Gesetze erlassen. Gleiches gilt auch für den Einsatz gegen den Klimawandel. Wenn Klimaforscher aufgrund ihrer akademischen Tätigkeit zu Einsichten gelangen, die sie gegen den Klimawandel argumentieren lassen, dann muss man stets zwischen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit und ihrem persönlichen Einsatz differenzieren. Klimaforschung kann nur aufzeigen, wie sich das Klima geändert hat oder wie es sich ändern wird. Klimaforschung ist jedoch nicht die moralische Instanz, den Klimawandel zu bewerten. Das ist eine politische und zu allererst gesellschaftliche Aufgabe. Ich weiß, oft sind die Grenzen schwammig und immer häufiger werden sie auch bewusst fallen glassen. Eine solche Grenzüberschreitung findet bspw. auch in der Literaturwissenschaft statt. Es wird sich dort aber niemand ernsthaft öffentlich derart entblöden und behaupten, dass nur die Gedichte von Goethe lesenwert sind und der Rest ein Fall für den Papierkorb der Geschichte ist.

Insgesamt sollte Wissenschaft stets der Neutralität verpflichtet sein. Wo die Einmischung von Autoritäten hinführt, hat die Geschichte und zwar auch die aktuelle gezeigt. Die Stichworte sind hier die Kraniometrie im 3. Reich oder der Entzug von Forschungsgeldern für die Kilmaforschung in den USA bzw. das dortige Betätigungsverbot in diesem Wissenschaftzweig. Man möge mich nicht falsch verstehen, ich will den unter bestimmten Gesichtspunkten durchaus nachvollziehbaren Ansatz, Sprache weniger diskriminierend zu gestalten, nicht mit den Methoden des 3. Reichs in Verbindung bringen. Die Gemeinsamkeit liegt jedoch darin, dass Wissenschaft unter moralischen und ideologischen Gesichtspunkten gelenkt wurde bzw. werden soll.

Gruß
PeterSilie
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#4
 
Ich glaube, eines der Probleme hier ist, dass viele glauben, bloß weil sie sprechen können und vielleicht auch noch beruflich "was mit Sprache" zu tun haben, sie auch eine fundierte Expertise zu Sprache haben. Mein ehemaliger Chef meinte immer: "Bloß weil ich seit über 60 Jahren erfolgreich atme, bin ich noch lange kein Pulmologe." Soll heißen: Deutschlehrer/innen, Journalist/innen, Jurist/innen und Ähnliche benutzen und interpretieren Sprache, zweifelsohne, aber ihnen fehlt die sprachwissenschaftliche Perspektive. Diese Perspektive können eben nur wir bieten und das sollten wir uns in jedwedem Diskurs über Sprache, Sprachpolitik, Sprachpflege usw. auch nicht nehmen lassen!

Wenn irgendwo ein Putsch stattfindet, wird von der Tagesschau jemand interviewt, der/die sich mit der betroffenen Region und/oder Politikwissenschaft auskennt. Wenn irgendwo ein Vulkan ausbricht stattfindet, wird von der Tagesschau jemand interviewt, der/die sich mit Vulkanologie usw. auskennt. Wenn irgendwas Sprachliches Nachrichtenwert bekommt, bringt die Tagesschau den Kommentar eines/r Journalistenkollegen/in.

Dass Sprachwissenschaft mehr ist, als Professor Doolittle spielen und ein bisschen in einer Grammatik blättern und Vokabeln lernen, hat sich noch nicht herumgesprochen. Unser Fach wird nicht als vollwertige Wissenschaft angesehen. Und wenn wir uns nicht als Expert/innen zu Sprache und Sprachichem in die öffentliche Diskussion einbringen, dann bleibt das auch so.
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#5
 
Ich sehe aber einen großen Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Expertise und dem Initiieren von Sprachwandel. Als LiguistIn kan/soll/darf man sich wissenschaftlich zu den Vor- und Nachteilen des Gebrauchs des generischen Maskulinums sowie der damit häufig einhergehenden Diskriminierung äußern. Ich würde sogar zustimmen, dass man hier einen gesellschaftlichen Auftrag zuerkennen kann. Es ist aber nicht Sache von LinguistInnen, sich aktiv dafür einzusetzen, dass sich Sprache ändert.

Nur weil man das Problem öffentlich reflektieren kann, heißt das doch nicht, dass man sich für eine bestimmte Auffassung entscheiden muss. Ich glaube auch nicht, dass es gesellschaftlich erwartet wird, dass sich LinguistInnen öffentlich dafür einsetzen, auch wenn es aus einer bestimmten Perspektive sicherlich wünschenswert wäre.
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#6
 
Amen. Wenn wir damit anfingen, Sprachwandel vorzuschreiben, kämen wir ja gar nicht mehr aus der Lehrer-Lämpel-Vorurteilsecke heraus.
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#7
 
Ich finde es bei diesem Thema sehr hilfreich, die Sprachwissenschaft mit anderen Wissenschaften zu vergleichen. Es wurden in dieser Diskussion schon oberflächliche Vergleiche zur Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft getätigt, aber ich denke, dass sich eine noch bessere Analogie zur Ernährungswissenschaft herstellen lässt, da es sich dabei auch um eine Wissenschaft handelt, bei der es um Tätigkeiten (Essensauswahl, Essenszubereitung und Essen) geht, mit der sich die meisten Menschen in ihrem Alltag beschäftigen. Ernährungswissenschaftleren* verwenden ihre Expertise auf drei verschiedene Weisen:
1. Sie führen wissenschaftliche Studien durch und beschreiben die empirischen Ergebnisse sowie theoretische Erklärungen dieser in Fachtexten, die von anderen Ernährungswissenschaftleren rezipiert werden.
2. Da es von der allgemeinen Bevölkerung ein Interesse an ernährungswissenschaftlichem Rat gibt, bemühen sich einige Ernährungswissenschaftleren darum, ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse auf für Laien verständliche Weise zusammenzutragen und aufzubereiten.
3. In ihrer Rolle als politisch engagierte und am Allgemeinwohl interessierte Mitbürgeren bemühen sich einige Ernährungswissenschaftleren darum, dass sich die Ernährungsgewohnheiten der Allgemeinbevölkerung hin zu einer gesünderen Ernährung entwickeln.

( * Ich benutze in dieser Nachricht das De-Le-System für geschlechtsneutrales Deutsch: https://delesystem.wordpress.com )

Man kann sagen, dass die ersten beiden wissenschaftliche Tätigkeiten sind und die dritte eine politische Tätigkeit ist, bei der die wissenschaftliche Expertise sehr nützlich ist.

Analog dazu können Sprachwissenschaftleren von ihrer Expertise auf drei Weisen Gebrauch machen:
1. Sie führen wissenschaftliche Studien durch und beschreiben die empirischen Ergebnisse sowie theoretische Erklärungen dieser in Fachtexten, die von anderen Sprachwissenschaftleren rezipiert werden.
2. Da es von der allgemeinen Bevölkerung ein Interesse an sprachwissenschaftlich fundierten Wörterbüchern und Grammatiken gibt, wirken einige Sprachwissenschaftleren bei der Erstellung von an die Allgemeinheit gerichteten Wörterbüchern und Grammatiken mit.
3. In ihrer Rolle als politisch engagierte und am Allgemeinwohl interessierte Mitbürgeren könnten Sprachwissenschaftleren sich darum bemühen, dass sich der Sprachgebrauch der Allgemeinbevölkerung dahingehend entwickelt, dass die Kommunikation besser funktioniert und diskriminierende Elemente des Sprachgebrauchs reduziert werden.

Während es für Ernährungswissenschaftleren nichts ungewöhnliches ist, ihre Expertise für die politische Tätigkeit der Kategorie 3 zu verwenden, ist dies im Falle der Sprachwissenschaftleren durchaus sehr ungewöhnlich. Woran liegt das?

Erst einmal muss man sich dessen bewusst werden, dass auch bei Kategorie 2 schon ein Unterschied bemerkbar ist: Wenn ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse für Laien zusammengetragen und aufbereitet werden, liegt der Fokus nicht darauf, wie Menschen sich allgemein ernähren, sondern darauf, welche Ernährungsformen welche Vor- und Nachteile mit sich bringen. Bei der heutigen Erstellung von Wörterbüchern und Grammatiken hingegen besteht oft der Anspruch, diese seien deskriptiv, so dass Wertungen bezüglich der Vor- und Nachteile verschiedener Ausdrucksweisen – sofern überhaupt vorhanden – eine untergeordnete Rolle spielen.

Dies war allerdings nicht immer so: Früher hatten Wörterbücher und insbesondere Grammatiken auch häufig einen präskriptiven Character. Bei Sprachen wie Deutsch, wo erst eine einheitliche schriftsprachliche Norm auf der Grundlage von vielen regional verschiedenen Dialekten und Stadtsprachen entwickelt werden musste, spielte bei diesem Präskriptivismus der Wunsch nach einer einheitlichen Norm eine große Rolle, und in dieser Hinsicht war der Präskriptivismus auch erfolgreich. Andererseits war der Präskriptivismus auch von Prinzipien beeinflusst, die aus der Sicht der modernen Linguistik höchst problematisch sind, z.B. von einer Hochschätzung der lateinischen Grammatik und dem daraus resultierenden Wunsch, Eigenschaften der lateinischen Grammatik auf moderne europäische Sprachen zu übertragen. Dies hat zu einer Diskreditierung des Präskiptivismus' in der modernen Linguistik geführt.

Während ich es für durchaus berechtigt halte, die nicht fundierten präskriptiven Prinzipien der Protolinguistik abzulehnen und zu versuchen, ähnliche Fehler in der heutigen Zeit zu vermeiden, sehe ich keinen Grund dafür, bei der Erstellung von Wörterbüchern und Grammatiken auf Hinweise über die Vor- und Nachteile von verschiedenen Ausdrucksweisen zu verzichten. Meines Erachtens werden solche Hinweise von der Nutzerschaft auch erwünscht, weswegen viele Wörterbücher und Grammatiken in dieser Hinsicht auch etwas vom reinem Deskriptivismus abweichen.

Tätigkeiten aus der oben definierten Kategorie 3 sind natürlich anders als Tätigkeiten der Kategorien 1 und 2 nicht welche, denen Wissenschaftleren in ihrer Funktion als Wissenschaftleren nachgehen sollten. Aber genauso wie ich es berechtigt finde, wenn Ernährungswissenschaftleren ihre Expertise dazu verwenden, um sich als politisch engagierte Bürgeren für gesundheitlich bessere Ernährungsgewohnheiten einzusetzen, genauso finde ich es berechtigt, wenn Sprachwissenschaftleren ihre Expertise dazu verwenden, um sich als politisch engagierte Bürgeren für weniger diskriminierenden Sprachgebrauch einzusetzen. Die Tatsache, dass diese Art und Weise, von der eigenen Expertise Gebrauch zu machen, unter Sprachwissenschaftlern anders als bei Wissenschaftlern anderer Fachbereiche allgemein negativ bewertet wird, ist meines Erachtens den oben genannten historischen Gegebenheiten geschuldet, aber nicht wirklich rational begründet.
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#8
 
Den Vergleich zwischen Sprach- und Ernährungswissenschaft finde ich interessant!

Allerdings würde ich einwenden, dass "sprachwissenschaftlich fundierte[...] Wörterbücher[...] und Grammatiken" und (die ggf. gewünschten) Wörterbücher mit präskriptiven Empfehlungen nicht ganz dasselbe sind. Außerdem ist es ja durchaus nicht unüblich, dass deskriptive Wörterbücher (wobei Deskriptivität für mich eine Voraussetzung für linguistisch fundierte Nachschlagewerke ist) auch deskriptive(!) Informationen über Konnotationen oder die pragmatische Verwendung geben. Da können sich dann alle, die einen als "abwertend" markierten Begriff nachschlagen, selbst überlegen, ob sie diesen wirklich verwenden wollen oder eher nicht. Ebenso kann ich mir gut einen Abschnitt über geschlechtsneutrale Sprache vorstellen, der verschiedene, weit genutzte Taktiken auflistet und wie diese von (Teilen) der Sprechergemeinschaft aufgefasst werden; man kann sich anhand dieser deskriptiven Übersicht selbst seine Meinung bilden bzw. Pro-und-Kontra-Listen erstellen.

Ansonsten fällt mir bei dem Vergleich auf, dass es vermutlich einfacher ist, die Wirkung unterschiedlicher Ernährungsbestandteile zu untersuchen als die Wirkung verschiedener sprachlicher Inputs, da man die Ernährung ja besser kontrollieren kann als den alltäglichen Sprachinput. Deswegen vermute ich auch, dass man eher in der Ernährungswissenschaft zu aussagekräftigen Ergebnissen (bzw. darauf basierend zu Ratschlägen) kommen kann als in der Soziolinguistik. (Ich habe mich aber mit keinem der beiden Forschungsgebiete näher beschäftigt bisher.)
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#9
 
(20.02.2019, 00:10:22)Kim Delesys schrieb: Dies war allerdings nicht immer so: Früher hatten Wörterbücher und insbesondere Grammatiken auch häufig einen präskriptiven Character. Bei Sprachen wie Deutsch, wo erst eine einheitliche schriftsprachliche Norm auf der Grundlage von vielen regional verschiedenen Dialekten und Stadtsprachen entwickelt werden musste, spielte bei diesem Präskriptivismus der Wunsch nach einer einheitlichen Norm eine große Rolle, und in dieser Hinsicht war der Präskriptivismus auch erfolgreich. Andererseits war der Präskriptivismus auch von Prinzipien beeinflusst, die aus der Sicht der modernen Linguistik höchst problematisch sind, z.B. von einer Hochschätzung der lateinischen Grammatik und dem daraus resultierenden Wunsch, Eigenschaften der lateinischen Grammatik auf moderne europäische Sprachen zu übertragen. Dies hat zu einer Diskreditierung des Präskiptivismus' in der modernen Linguistik geführt.

Dennoch gibt es nach wie vor präskriptive Wörterbücher und Grammatiken, nicht zuletzt den Rechtschreibduden oder den Duden "Gutes und richtiges Deutsch" und natürlich alles für den Schulgebrauch bzw. DaF/DaZ. 



(20.02.2019, 02:16:55)blv schrieb: Den Vergleich zwischen Sprach- und Ernährungswissenschaft finde ich interessant!

Ja, der ist gut. Den werde ich plagii... in mein Repertoire aufnehmen. 

Traurige Gemeinsamkeit: über beide Disziplinen habe ich schon Leute Sachen sagen gehört in der Art "Das gibt's als Studienfach? Man kann heutzutage echt jeden Scheiß studieren..."
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#10
 
Ich finde es vor allem auch wichtig, überhaupt "Linguistik" zu definieren. Während die einen es als deskriptive Wissenschaft definieren und somit definitorisch den präskriptiven Teil ausschließen, ist dies bei solchen nicht gegeben, die auch präskriptive Linguistik betreiben. Das nur am Rande, ich würde es auch eher als Wissenschaft auffassen, die Präskription sicherlich auch deskriptiv betrachten kann. Aber wenn man aufgrund einer Wissenschaftsdefinition Implikationen für den Wissenschaftsapparat ableitet, muss man auch die Definition beargumentieren.
Darüberhinaus, und das wurde ja nun auch angesprochen, würde ich mit dem Initialpost nicht direkt Akkord gehen. Das Ziel der Sprachwissenschaft in genau der Gender-Debatte ist es, herauszufinden wie dies getan werden kann und getan wird. Für die ganze Debatte ist Sprachwissenschaft daher gar nicht wegzudenken. Und Menschen sollten besser differenzieren, dass wenn ein*e Sprachwissenschaftler*in sich für das Gendern einsetzt, dann 1. als Individumsperson und nicht als Repräsentant*in der Wissenschaft und 2. weil sie es kann aufgrund ihrer Expertise und nicht trotz. Genauso wie sich aus der Ernährungswissenschaft für eine*n Wissenschaftstüchtige*n wahrscheinlich auch die persönliche Implikatur einer gesünderen Ernährung ableiten lässt, oder wie sich für eine*n Klimaforscher*in die Maxime eines bewussteren Konsums ableiten lässt, kann sich aus der Sprachwissenschaft heraus eine reflektiertere Haltung gegenüber dem Gendern entwickeln und man kann sich in den Diskurs einbringen.
Die Sprachwissenschaft bietet einem das Wissen, um die neurolinguistische Verarbeitung von generischen Maskulina, das grammatikalische Wissen über Vermeidungsstrategien und die soziolinguistischen Einsichten in Haltungen und Empfindungen von Gendern vs. Nicht-Gendern übrhaupt zu untersuchen.
Nur weil man Sprachwissenschaftler*in ist, heißt es nicht, dass man nicht an der Genderdebatte teilnehmen darf, sondern wahrscheinlich gerade eben sollte, als jemand der mehr Expertise hat als andere. 
Dabei soll ja nicht die Sprachwissenschaft auf die Sprache verändern wirken, sondern sie soll Praktiken sprachwissenschaftlich aufbereiten, damit sie auch außerhalb von anderen (ob sie nun selbst Sprachwissenschaftler*innen sind oder nicht) angewandt werden können.
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