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Wie würdet Ihr Folgendes ins Deutsche übersetzen: „Amor vigilat et dormiens non dormitat“? Das steht auf einem Grabstein.
Mit meinen recht beschränkten Lateinkenntnissen hätte ich zwei Ideen:
„Liebe wacht und schlummert, ohne zu schlafen.“
Also vielleicht im Sinne von „Liebe ist immer da, sie schläft nie, höchstens schlummert sie“. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sich non auf dormiens beziehen kann, wenn es dahinter steht (und dann in Kombination mit dem Partizip so etwas wie ‚ohne dass‘ bedeutet). Normalerweise steht es ja vor dem Verb.
Wenn sich non auf dormitat bezieht, würde ich es so übersetzen: „Liebe wacht, und wenn sie schläft, schlummert sie nicht.“
Also vielleicht im Sinne von „Entweder ist die Liebe wach oder nicht, es gibt kein Dazwischen“.
Ich habe auch in Betracht gezogen, dass dormiens eine Metapher für den Tod sein könnte.
Habt Ihr noch andere Ideen?
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(30.06.2024, 00:02:46)Yaouoay schrieb: Wie würdet Ihr Folgendes ins Deutsche übersetzen: „Amor vigilat et dormiens non dormitat“? Das steht auf einem Grabstein.
...
Wenn sich non auf dormitat bezieht, würde ich es so übersetzen: „Liebe wacht, und wenn sie schläft, schlummert sie nicht.“
Also vielleicht im Sinne von „Entweder ist die Liebe wach oder nicht, es gibt kein Dazwischen“.
Ich habe auch in Betracht gezogen, dass dormiens eine Metapher für den Tod sein könnte.
Habt Ihr noch andere Ideen?
Typischerweise bezieht sich die Negation im Lateinischen auf das folgende Wort, vor allem, wenn dieses ein Verb ist. Also definitiv auf "dormitat". Ich denke, du hast es fast... Wenn wir das Partizip konzessiv interpretieren, erscheint mir das ganze doch ganz sinnvoll:
"Die Liebe wacht, und auch/selbst wenn sie schläft, schlummert sie nicht."
Wobei für das Verständnis noch zu beachten ist, dass "dormitare" (= schlummern) im eigentlichen Sinn ein Intensivum zu "dormire" (= schlafen) ist; im Deutschen tue ich mir mit "schlummern" und "schlafen" immer etwas schwer, zu entscheiden, welches das intensivere ist. Das Verb im Hauptsatz muss hier jedenfalls das stärkere sein. Vielleicht (zum Verständnis, als Übersetzung aber nicht allzu schön):
"Die Liebe wacht, und auch wenn sie mal ein Nickerchen hält, schläft sie nicht/nie wirklich tief."
Daneben kann "dormitare" sich von der Bedeutung des Schlafens noch weiter entfernen in Richtung "untätig sein", also:
"Die Liebe wacht, und auch wenn sie schläft, ist sie nicht untätig/inaktiv."
Im Sinne von "Sie mag schlafen, aber selbst im Schlaf wirkt sie und erlischt nicht."
In gewisser Weise ist "dormiens" natürlich eine Metapher für den Tod, aber ich würde es nicht so übersetzen: Denn der Sinn des Satzes ist ja ziemlich eindeutig, dass die Liebe, selbst wenn wir tot sind, selbst nicht stirbt, sondern allerhöchstens ruht, also eben gerade nicht tot ist (auch wenn sie es in gewisser Weise ist).
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Vielen Dank für Deine Gedanken dazu!
Das Partizip konzessiv zu interpretieren, ist eine gute Idee. Durch die Polysemie von sowohl dormire als auch dormitare ist es aber leider schwierig, sicher zu sein. Dass Letzteres eine Intensiv-Bildung zu Ersterem ist, habe ich auch gelesen, trotzdem scheinen mir persönlich die Bedeutungen von dormire generell intensiver. Laut meinem Langenscheidt kann dormire übrigens ebenfalls ‚untätig sein‘ bedeuten, da ist nicht viel gewonnen.
Jon.Schnee schrieb:"Die Liebe wacht, und auch wenn sie schläft, ist sie nicht untätig/inaktiv."
Im Sinne von "Sie mag schlafen, aber selbst im Schlaf wirkt sie und erlischt nicht."
In gewisser Weise ist "dormiens" natürlich eine Metapher für den Tod, aber ich würde es nicht so übersetzen: Denn der Sinn des Satzes ist ja ziemlich eindeutig, dass die Liebe, selbst wenn wir tot sind, selbst nicht stirbt, sondern allerhöchstens ruht, also eben gerade nicht tot ist (auch wenn sie es in gewisser Weise ist).
Kann das Partizip denn sowohl in Bezug auf das vorangehende Subjekt ( amor) als auch auf ein implizites Subjekt wie „wir“ interpretiert werden? Wenn wir übersetzen mit „und auch wenn sie schläft“, schläft ja die Liebe, aber in „aber selbst im Schlaf“ klingt es für mich eher danach, dass es um die Menschen geht, die schlafen/tot sind (und trotzdem noch jemand lieben oder geliebt werden können). Wenn das Subjekt von dormiens ein anderes sein kann als von vigilat und dormitat, wäre aus meiner Sicht folgende Lesung naheliegend:
„Die Liebe ist wach, selbst wenn jemand stirbt, schläft sie nicht ein.“
weniger wörtlich: „Die Liebe ist immer wach, selbst wenn der geliebte Mensch stirbt, erlischt sie nicht.“
Bei einer Online-Suche nach fraglichem Satz habe ich übrigens dieses Dokument gefunden. Der Satz steht in folgendem Kontext, vielleicht hilft das ja noch:
Zitat:Amor modum saepe nescit: sed super omnem modum fervescit. Amor onus non sentit: labores non reputat, plus affectat quam valet; de impossibilitate non causatur: quia cuncta sibi posse et licere arbitratur. Valet igitur ad omnia; et multa implet et effectui mancipat: ubi non amans deficit et iacet. Amor vigilat et dormiens non dormitat; fatigatus non lassatur, artatus non artatur, territus non conturbatur: sed sicut vivax flamma et ardens facula sursum erumpit secure que pertransit. Si quis amat: novit quid haec vox clamet.
Aber da es auf einem Grabstein steht, können wohl nur diejenigen, die ihn in Auftrag gegeben haben, wirklich mit Sicherheit wissen, was es in Bezug auf die begrabene Person bedeuten soll.
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(01.07.2024, 02:27:56)Yaouoay schrieb: Vielen Dank für Deine Gedanken dazu!
Das Partizip konzessiv zu interpretieren, ist eine gute Idee. Durch die Polysemie von sowohl dormire als auch dormitare ist es aber leider schwierig, sicher zu sein. Dass Letzteres eine Intensiv-Bildung zu Ersterem ist, habe ich auch gelesen, trotzdem scheinen mir persönlich die Bedeutungen von dormire generell intensiver. Laut meinem Langenscheidt kann dormire übrigens ebenfalls ‚untätig sein‘ bedeuten, da ist nicht viel gewonnen.
Das stimmt, die Metapher des Nichtstuns kann in beiden drinstecken.
[quote pid='20375' dateline='1719793676']
Kann das Partizip denn sowohl in Bezug auf das vorangehende Subjekt (amor) als auch auf ein implizites Subjekt wie „wir“ interpretiert werden? Wenn wir übersetzen mit „und auch wenn sie schläft“, schläft ja die Liebe, aber in „aber selbst im Schlaf“ klingt es für mich eher danach, dass es um die Menschen geht, die schlafen/tot sind (und trotzdem noch jemand lieben oder geliebt werden können). Wenn das Subjekt von dormiens ein anderes sein kann als von vigilat und dormitat, wäre aus meiner Sicht folgende Lesung naheliegend:
„Die Liebe ist wach, selbst wenn jemand stirbt, schläft sie nicht ein.“
weniger wörtlich: „Die Liebe ist immer wach, selbst wenn der geliebte Mensch stirbt, erlischt sie nicht.“
[/quote]
Das funktioniert leider nicht; da das Partizip im Nominativ steht, kann es sich nur auf das Subjekt des Satzes beziehen, also auf Amor/die Liebe. Ansonsten müsste man ein "wir" oder Ähnliches einfügen und einen Ablativus Absolutus daraus machen, etwa in die Richtung:
„Amor vigilat et nobis dormientibus non dormitat“
[quote pid='20375' dateline='1719793676']
Amor modum saepe nescit: sed super omnem modum fervescit. Amor onus non sentit: labores non reputat, plus affectat quam valet; de impossibilitate non causatur: quia cuncta sibi posse et licere arbitratur. Valet igitur ad omnia; et multa implet et effectui mancipat: ubi non amans deficit et iacet. Amor vigilat et dormiens non dormitat; fatigatus non lassatur, artatus non artatur, territus non conturbatur: sed sicut vivax flamma et ardens facula sursum erumpit secure que pertransit. Si quis amat: novit quid haec vox clamet.
[/quote]
"Die Liebe kennt oft kein Maß, sondern kocht über alle Maßen hoch. Die Liebe spürt keine Last; sie rechnet keine Mühe an, sie strebt nach mehr als sie Kraft hat (= ertragen kann); sie beklagt sich nicht über Unmöglichkeit, weil sie glaubt, dass ihr alles möglich und erlaubt ist. Sie hat also Kraft zu allem; und sie erfüllt vieles und bringt es zur Ausführung (?), wo nicht der Liebende schwach wird und darniederliegt. Die Liebe wacht und selbst wenn sie ruht, schläft sie nicht fest; wenn sie erschöpft ist, ermattet sie nicht; wenn sie bedrängt wird, lässt sie sich nicht bedrängen; wenn sie in Angst versetzt wird, lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen; sondern wie eine lebendige Flamme und eine brennende Fackel (eig. Deminutiv) bricht sie nach oben aus und zieht sorglos umher. Wenn jemand liebt, dann weiß er, was dieses Wort ("Liebe") bedeutet (wahrscheinlicher als "dann weiß er, was diese Stimme ruft")."
Insofern denke ich, wir haben den Sinn schon ziemlich gut getroffen. Vielleicht ist die semantische Unterscheidung von dormire/dormitare gar nicht so wichtig; kurz danach steht ja auch "artatus non artatur"/"wenn sie bedrängt wird, lässt sie sich nicht bedrängen". Gemeint ist auf jeden Fall, dass die Liebe ruhen/schlafen kann, ohne selbiges wirklich zu tun, vielleicht wie bei "artatus" mit gewünschtem Widerspruch in sich.
[quote pid='20375' dateline='1719793676']
Aber da es auf einem Grabstein steht, können wohl nur diejenigen, die ihn in Auftrag gegeben haben, wirklich mit Sicherheit wissen, was es in Bezug auf die begrabene Person bedeuten soll.
[/quote]
Das ist natürlich auch wahr.
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Wow, vielen Dank, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, den ganzen Abschnitt zu übersetzen, das hilft sehr! (=
Besonders dieser Teil scheint mir relevant für die Interpretation:
Zitat:Die Liebe wacht und selbst wenn sie ruht, schläft sie nicht fest; wenn sie erschöpft ist, ermattet sie nicht; wenn sie bedrängt wird, lässt sie sich nicht bedrängen; wenn sie in Angst versetzt wird, lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen; sondern wie eine lebendige Flamme und eine brennende Fackel (eig. Deminutiv) bricht sie nach oben aus und zieht sorglos umher.
Dem fraglichen Satz folgt ein dreifacher Parallelismus mit antithetischen Aussagen der Form „(wenn) x.PART-PERF, (dann) nicht x/y.PRÄS-PASSIV. Der unterstrichene Satz hat eine ähnliche, aber nicht identische Struktur, sodass die Interpretation naheliegt, dass die drei folgenden Aussagen Beispiele für den unterstrichenen Satz sind oder diesem in einer ähnlichen Weise untergeordnet sind. Inhaltlich haben diese drei Beispiele (und der Teil ab ‚sondern‘) gemeinsam, dass sie die Stärke und Unverwüstlichkeit der Liebe darstellen. Daher würde ich davon ausgehen, dass dies auch der fragliche Satz tut.
Das spricht definitiv für Deine Übersetzung hier. Allerdings entspricht es nicht ganz den Bedeutungen von dormito, die ich in Wörterbüchern gefunden habe – sehr wohl aber dem Fakt, dass es sich um eine Intensivbildung handelt. Insofern würde ich sagen, dass Du damit wohl die naheliegendste Übersetzung gefunden hast. Vielen Dank! (:
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(02.07.2024, 00:59:38)Yaouoay schrieb: Das spricht definitiv für Deine Übersetzung hier. Allerdings entspricht es nicht ganz den Bedeutungen von dormito, die ich in Wörterbüchern gefunden habe – sehr wohl aber dem Fakt, dass es sich um eine Intensivbildung handelt. Insofern würde ich sagen, dass Du damit wohl die naheliegendste Übersetzung gefunden hast. Vielen Dank! (:
Freut mich, wenn ich helfen konnte!
Die meisten Wörterbücher sind halt auf das antike Latein ausgerichtet; wenn du mit Langenscheidt oder Pons arbeitest, noch mit einem Fokus auf der klassischen Epoche (1. Jahrhundert v.Chr.), die größeren Wörterbücher wie Georges oder Thesaurus Linguae Latinae bis in die Spätantike. Der Autor dieses Textes Thomas von Kempen ist aber ja aus dem 14./15. Jahrhundert und Mönch, also Mittellateiner mit im besten Fall einer Tendenz zum Neulatein. Da kann das schon mal vorkommen, dass das Intensivum wieder eher die eigentliche Intensivbedeutung bekommt als die, die es im "klassischen" Latein hat. Ich selbst bin viel im 16. Jahrhundert tätig, und auch wenn die natürlich Cicero immer als Vorbild haben, stößt man doch immer mal wieder auf Wörter oder Konstruktionen, die Cicero so garantiert nicht verwendet hätte, selbst bei Humanisten, die sich wirklich um die Rückkehr zum Alten bemühen.
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Zitat:Die meisten Wörterbücher sind halt auf das antike Latein ausgerichtet; wenn du mit Langenscheidt oder Pons arbeitest, noch mit einem Fokus auf der klassischen Epoche (1. Jahrhundert v.Chr.), die größeren Wörterbücher wie Georges oder Thesaurus Linguae Latinae bis in die Spätantike. Der Autor dieses Textes Thomas von Kempen ist aber ja aus dem 14./15. Jahrhundert und Mönch, also Mittellateiner mit im besten Fall einer Tendenz zum Neulatein. Da kann das schon mal vorkommen, dass das Intensivum wieder eher die eigentliche Intensivbedeutung bekommt als die, die es im "klassischen" Latein hat. Ich selbst bin viel im 16. Jahrhundert tätig, und auch wenn die natürlich Cicero immer als Vorbild haben, stößt man doch immer mal wieder auf Wörter oder Konstruktionen, die Cicero so garantiert nicht verwendet hätte, selbst bei Humanisten, die sich wirklich um die Rückkehr zum Alten bemühen.
Oh, sehr interessant, vielen Dank für den Hinweis! (=
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Dumme Frage, aber die Literatur scheint mir nur das herzugeben:
Werden Infinitivgruppen als Komplemente nach wie vor so behandelt, als trügen sie zur jeweiligen Satzbedeutung dasselbe bei wie ein dass-Satz?
Beispiel:
"Willi gefällt es, ins Wasser zu springen"
und
"Willi gefällt es, dass er ins Wasser springt"
wären dann gleichbedeutend.
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